Bayern 2 - radioWissen


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Das Thema Erwartungen und Sehnsucht

Stand: 22.11.2011 | Archiv

Die Pariser Monate sind eine Zeit der Gärung. Kleist durchlebt einen Konflikt, der als grundsätzliches Auseinanderklaffen von Sollen und Wollen aufbricht:

Im Würgegriff der Erwartungen

"Ach, ich trage mein Herz mit mir herum, wie ein nördliches Land den Keim einer Südfrucht. Es treibt und treibt, und es kann nicht reifen." Hinter der Herzmetapher drängt sich das Eigentliche in den Blick, der Grundbruch seines Lebens: Was andere von ihm wollen, wohin sie ihn drängen und was er will, wohin es zieht, passt nicht mehr, und nun endgültig nicht mehr zusammen. Er sucht nach einer selbstbestimmten, autonomen Existenz, frei von den Fesseln des Erwartungsdrucks, den ihm Herkommen und Familie übergestülpt haben: "Ich selbst habe freilich durch einige seltsamen Schritte die Erwartung der Menschen gereizt; und was soll ich nun antworten, wenn sie die Erfüllung von mir fordern? Und warum soll ich denn grade ihre Erwartung erfüllen? O es ist mir zur Last - Es mag wahr sein, daß ich so eine Art von verunglücktem Genie bin, wenn auch nicht in ihrem Sinne verunglückt, doch in dem meinen."

Die Sehnsucht nach dem puren Leben

Damit soll es jetzt Schluss sein. Kein Hin- und Herlavieren, kein falsches Leben, kein Nachgeben mehr und keine Zugeständnisse. Ab jetzt nur noch Kleist pur! "Ich trage eine innere Vorschrift in meiner Brust, gegen welche alle äußern, und wenn sie ein König unterschrieben hätte, nichtswürdig sind. Daher fühle ich mich ganz unfähig, mich in irgend ein konventionelles Verhältnis der Welt zu passen."

Nach und nach ändert sich der Tonfall seiner Briefe, schlägt von greller Verzweiflung um in eine nicht minder grelle Euphorie. Endlich eine Perspektive: Kleist will allen Ernstes und "im eigentlichsten Verstande ein Bauer werden, mit einem etwas wohlklingenderen Worte, ein Landmann. - Was meine Familie und die Welt dagegen einwenden möchte, wird mich nicht irre führen. […] keine Wahrheit hat noch so tief in meine Seele gegriffen, als diese. Das soll ich tun, das weiß ich bestimmt."

Die Schweizer Landpartie

Gestützt auf ein kleines - und von ihm vermutlich weitaus überschätztes - Erbe will er in der Schweiz ein Stück Land kaufen und gemeinsam mit Wilhelmine bebauen. Die Verlobte, in glühenden Briefen bukolisch bedrängt, ist wenig begeistert. Sie weicht aus, lenkt ab. Egal, die Würfel sind gefallen. Ende Dezember trifft Kleist in Bern ein, doch der Landkauf zerschlägt sich. Die napoleonischen Wirren haben längst auch die Schweiz ergriffen, an der Frage nach dem künftigen Weg der Helvetischen Republik entzünden sich Aufstände zwischen rivalisierenden Kräften. Kleist bleibt zunächst in Bern, wo eine intensive Schreibphase einsetzt. Im Frühjahr 1802 mietet er sich auf einer Aare-Insel bei Thun ein, vollendet den dramatischen Erstling "Die Familie Schroffenstein" und beginnt mit dem Drama "Robert Guiskard".

Das Ende einer Liebe

In dieser hochproduktiven Phase zerbricht das ohnehin längst durch Vorwürfe, Gekränktheiten, Hinhaltemanöver, Erpressungsversuche und Durchhalteappelle aufgeriebene Verlöbnis mit Wilhelmine. Als sie die Aufforderung, ihm in die Schweiz zu folgen, rundweg ausschlägt, löst Kleist die Verbindung am 20. Mai schriftlich auf: "Liebes Mädchen, schreibe mir nicht mehr. Ich habe keinen andern Wunsch als bald zu sterben. H. K."

Offensichtlich schwerer als der Verlust der Verlobten drücken ihn Geldprobleme. Im August 1802 schickt er, krank und völlig abgebrannt, einen verzweifelten Hilferuf nach Hause. Ulrike, die verlässliche Schwester, macht sich unverzüglich auf die Reise nach Bern. Mitte Oktober kehren sie gemeinsam nach Weimar zurück. Kleist, nunmehr endgültig Bauer a. D., muss sich wieder einmal neu erfinden.


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