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Götter, Genien, Griechenland und Zukunftstöne

Friedrich Hölderlin Götter, Genien, Griechenland und Zukunftstöne

Stand: 04.07.2017

Friedrich Hölderlin und seine Geliebte Susette Gontard, Holzstich um 1870 | Bild: picture-alliance/dpa

Immer wieder Griechenland, immer wieder Götter, immer wieder Genien. Warum dieser ständige Rückbezug auf die Antike? Wozu braucht Hölderlin die "Alten"? Geht es um modische Staffage, um eine klassische Attitüde oder eine Art Bildungs-Posing: Schaut her, auch ich kann Griechisch und den Stammbaum der Olympischen zur Not im Tiefschlaf herunterbeten? Sicher nicht. Mit naiver Griechenschwärmerei oder einer um 1800 angesagten Retromasche hat Hölderlin nichts am Hut. Er will die Antike weder als gelehrte Kulisse missbrauchen noch kopieren oder eins zu eins wiederbeleben.

Hen kai pan - Alles ist Eins

Hölderlins Griechenland ist eine Verlust- und Zielanzeige zugleich. Er braucht Griechenland nicht als Fluchtort, sondern als Imaginationsraum, an dem er aufzeigen kann, welche entscheidenden Seinsqualitäten im Lauf des Geschichts- und Kulturprozesses verloren gingen und was die Zukunft wiederherstellen muss. Verloren ist vor allem die ursprüngliche ungeteilte Einheit allen Seins, die "durch Götternähe erfüllte" Epoche der Menschheit. Verloren ist ein Idealzustand, den die griechische Philosophie mit hen kai pan, mit "alles ist eins" umschreibt. Der moderne Mensch, so klagt der Hyperion, der Held des gleichnamigen Briefromans, ist auseinandergebrochen "und treibt hin und wieder seine Künste mit sich selbst, als könnt er, wenn es einmal sich aufgelöst, Lebendiges zusammensetzen, wie ein Mauerwerk." Die Beschwörung Griechenlands und seiner Götter setzt einen starken Kontrast zu diesem trostlosen Zeitbefund. Und sie zeigt, was einst war und wieder werden soll.

"Das lezte, gröste Werk der Menschheit"

Das Mittel zur Wiederherstellung dieses einstigen Zustands erfüllter Götternähe ist die Kunst, genauer die Poesie. In ihr fließen alle Kräfte der Natur, alle Erscheinungen des Seins, Verstand und Vernunft zusammen. Genau das meint "erfüllte Götternähe". Die Poesie wird zur Quelle, zum Ausdruck, zum Gefäß dieses "lebendigen, aber besondern Ganzen". Sie gründet eine neue Mythologie der Vernunft, eine neue Religion, die das "lezte, gröste Werk der Menschheit seyn" wird. Was diese "neue Mythologie" genau ist, bleibt in der Schwebe. Sie ist vielleicht am ehesten als eine Art kultureller Text, als ein Gewebe zu beschreiben, in dem alle geistigen, kulturellen, gesellschaftlichen, politischen Erscheinungen zusammenfallen, ein kultureller Gesamttext, in dem das kollektive Gedächtnis, Geist und Natur, Verstand und Vernunft untrennbar verwoben sind. Dieser neue Mythos ist nicht privat, er ist öffentlich und begründet eine Gemeinschaft, die sich im gemeinsamen Besitz der neuen, letzten und größten Religion als ihm zugehörig konstituiert.

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