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Heinrich von Kleist Das Thema

Stand: 09.06.2009 | Archiv

Portrait | Bild: picture-alliance/dpa

"Zuweilen teilten wir uns auch freigebig von eigenen poetischen Schöpfungen mit (...). Wir vereinten uns auch, wie Virgils Hirten, zum poetischen Wettkampf. In meinem Zimmer hing ein französischer Kupferstich, "La cruche cassée". In den Figuren desselben glaubten wir ein trauriges Liebespärchen, eine keifende Mutter mit einem zerbrochenen Majolika-Kruge und einen großnasigen Richter zu erkennen. Für Wieland sollte diese Aufgabe zu einer Satire, für Kleist zu einem Lustspiele, für mich zu einer Erzählung werden – Kleists "Zerbrochner Krug" hat den Preis davon getragen." So schildert Heinrich Zschokke, der zu Beginn des Jahres 1802 in der Schweiz oft mit Kleist zusammen war, den Anstoß, den der Kupferstich von Jean-Jaques Le Veau – entstanden in Anlehnung an das Gemälde "Le juge de village" von Jean-Philibert Debucourt - zur Entstehung des Lustspiels gegeben hat. Gleichzeitig deutet sich hier biografisch an, was das gesamte kurze und tragisch endende Leben Kleists prägen sollte: Die Suche nach menschlicher Nähe, die ihm, wie hier im Zusammensein mit Zschokke und dem Sohn Wielands, immer nur kurzzeitig geschenkt wurde.

Im Zusammenhang mit seiner Arbeit an seinem immer wieder von ihm verworfenen und Fragment gebliebenen Drama "Robert Guiskard" beschäftigte sich 1803 der, sich wieder einmal in großer finanzieller Not befindende, Dichter mit "König Ödipus" von Sophokles. Dieses ihm in der Übersetzung von Johann Jakob Steinbrüchel vorliegende antike Drama bestimmte wohl die dramaturgische Konzeption des Lustspiels: Vor den Zuschauern werden allmählich die Zusammenhänge, wie in einem Kriminalroman, enthüllt. Auch der Klumpfuß des Dorfrichters kann in Zusammenhang mit dem Namen Ödipus, der übersetzt "Schwellfuß" bedeutet, gesehen werden. Die Arbeit an seinem Theaterstück, das er schon bei seinem Aufenthalt in der Schweiz begonnen hatte, sollte ihn, immer wieder durch andere Projekte unterbrochen, mehrere Jahre beschäftigen. Er erwähnt das Stück erstmals 1805 in einem Brief an Christian von Massenbach. Ob das Werk zu dieser Zeit schon vollständig vorlag, lässt sich jedoch nicht mehr feststellen.

Goethes Reaktion auf das Stück, das er im August 1807 zur Kenntnis nahm, verweist schon auf die Problematik, die einer Aufführung des Stückes nach der Weimarer Uraufführung zunächst im Wege stand:

"'Der Zerbrochene Krug' hat außerordentliche Verdienste, und die ganze Darstellung dringt sich mit gewaltsamer Gegenwart auf. Nur schade, dass das Stück auch wieder dem unsichtbaren Theater angehört. Das Talent des Verfassers, so lebendig er auch darzustellen vermag, neigt sich doch mehr gegen das Dialektische hin; wie es sich denn selbst in dieser stationären Prozessform auf das wunderbarste manifestiert hat. Könnte er mit ebendem Naturell und Geschick eine wirklich dramatische Aufgabe lösen und eine Handlung vor unseren Augen und Sinnen sich entfalten lassen, wie er hier eine Vergangene sich nach und nach enthüllen lässt, so würde es für das deutsche Theater ein großes Geschenk sein. Das Manuskript will ich mit nach Weimar nehmen (...) und sehen, ob etwa ein Versuch der Vorstellung zu machen sei. Zum Richter Adam haben wir einen vollkommen passenden Schauspieler, und auf diese Rolle kommt es vorzüglich an. Die anderen sind eher zu besetzen."

Johann Wolfgang von Goethe

Die Uraufführung

Die Weimarer Uraufführung wurde, wie die Bedenken Goethes schon andeuteten, insgesamt gesehen ein Fiasko. Das durchschnittliche Weimarer Publikum war schlichtweg überfordert mit dem Stück. So gab es neben den teils pflichtschuldigen Beifallsbekundungen auch deutliche Missfallensäußerungen des Publikums. Auch Herzog Karl August war verstimmt und das Verhältnis Kleists zu Goethe nachhaltig gestört.

Der Anfang der 1960er Jahre von dem Kleistforscher Helmut Sembdner wiederentdeckte Bericht der Leipziger Allgemeinen Deutschen Theaterzeitung vom 11.03.1808 über dieses Theaterereignis gibt einigen Aufschluss über den Misserfolg:

"Aus dem scheuen Schweigen der Tochter, der Verlegenheit und den Wunden des kahlköpfigen Dorfrichters erraten wir sogleich, dass nur er am Abend unter irgendeinem Vorwand bei Jungfer Even gewesen; aber hilf Himmel, hilf! nun müssen wir noch den zweiten und den (das ganze Stück verdarb dritthalb Stunden) eine Stunde währenden dritten Akt, alles ein einziges Verhör, mit anhören. Dem Erzähler kommt es wohl zu und ist bei ihm interessant, aber der dramatische Dichter darf die entdeckte Wahrheit nicht so unendlich weit vom endlichen Bekenntnis entfernen. Dass der Verfasser kein Dramatiker ist, beweist seine Unkunde jeder dramatischen Regel. Ich höre, dass es ein Herr von Kleist sei. Der tapfere Obrist (denn ich denke mir durchaus den Verfasser als Soldaten) zog die Socke an, ließ aber die Sporen nicht ab und verwickelte sich so in Thaliens Gewand, dass er stundenlang hin- und herziehen musste, bis er sich, auf Kosten der leichten Bekleidung, endlich herauszog. Dem Publikum gereicht es zur Ehre, dass es am Ende des Stücks (was ich nie hier erlebte) wirklich pochte (...) Hr. Becker war als Dorfrichter Adam vortrefflich, seine Malerei sehr passend. Demois. Elsermann, die eigentliche plagende Erzählerin, Jungfer Eve, hatte sich recht gut kostümiert."

Bericht der Leipziger Allgemeinen Deutschen Theaterzeitung vom 11.03.1808

Zu Kleists Lebzeiten ist das Stück nie wieder gespielt worden.

Der Grabstein des Dichters Heinrich von Kleist am Berliner Wannsee .

Erst die Bearbeitung und Inszenierung des Hamburger Theaterdirektors Friedrich Ludwig Schmidt im Jahre 1820, der selbst den Dorfrichter Adam wohl sehr virtuos spielte, machte den Weg für weitere Inszenierungen frei. Nach einem wiederholten Misserfolg 1822 in Charlottenburg und Berlin dauerte es jedoch noch weitere 22 Jahre bis das Lustspiel auch auf Berliner Bühnen Anerkennung fand. Erst eine neue Inszenierung im Jahre 1844, mit dem später als Adam-Darsteller berühmt gewordenen Theodor Döring, ließ es dauerhaft in Berlin heimisch werden.

Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte

Die Möglichkeit, das Drama angemessen auf der Bühne darzustellen, wurde oft genug in Zweifel gezogen. Auch Ludwig Tieck äußerte 1821 seine Bedenken, indem er die Eignung des Stückes für das Theater infragestellte. Gleichwohl fand die literarische Qualität des Lustspiel, dessen Originalität er erkannte, seinen Beifall. Der Erfolg der Hamburger Aufführung von 1821 widerlegte allerdings diese Positionen. So äußerte sich dann auch im Anschluss daran Friedrich Gottlieb Zimmermann in den "Dramaturgischen Blättern für Hamburg" (Februar 1821) in diesem Sinne:

"Es ist schwer zu begreifen, dass dasselbe auf unseren Bühnen so wenig Beachtung gefunden hat, da wir an ähnlichen Erzeugnissen nicht eben reich sind; und die Zweifel, die gegen die Darstellbarkeit desselben erregt werden könnten, sind durch den Erfolg, welchen die Aufführung auf der hiesigen Bühne gehabt hat, vollgenügend hinweggeräumt."

Friedrich Gottlieb Zimmermann

1848 forderte dann Friedrich Hebbel vehement die Aufführung des Stücks ein:

"Dann dürfte wohl endlich auch Heinrich von Kleist wohl einmal an die Reihe kommen, und in seiner wahren Gestalt. Nur in Deutschland, und auch in Deutschland nur vor der Revolution, konnte es sich ereignen, dass das einzige Lustspiel, das die Literatur aufzuweisen hat, 'Der zerbrochne Krug' nämlich, für die Bühne fast nicht vorhanden war."

Friedrich Hebbel

Dennoch stellte sich nach wie vor der Bühnenerfolg nur zögerlich ein. Noch 1886 äußert sich Fontane dahingehend, dass er das Stück eher für ein "Lesestück" halte.

"Da bewundert man die Kunst des Aufbaus, die Konsequenz der Durchführung, die Schärfe der Sprache, vor allem ihre Knappheit, und was Hässliches mit darunter läuft, wird einem - Pardon für den Ausdruck - wenigstens nicht direkt unter die Nase gestoßen. Hat man dies Gräuel von Dorfrichter aber dreiviertel Stunde lang beinah auf Handnähe vor sich, sieht man ihn sich die gequetschte Wade gemächlich verbinden und wird man unausgesetzt zum Augen- und Ohrenzeugen seiner Brutalitäten, Lügen und Pfiffigkeiten, ohne in diese sich auch schon äußerlich als Schmuddelwelt sich charakterisierende Gerichtsstube nur einen einzigen Licht- und Schönheitsschimmer (denn der zutage tretende Humor ist au fond wenig erquicklich) einfallen zu sehen, so wird man der unbestreitbaren und beinah grandiosen Vorzüge des Stückes, nämlich seiner Charakteristik und seiner Ökonomie, nicht recht froh."

Theodor Fontane

Theodor Storm sieht im Unterschied zu seinem Kollegen Probleme in der Anlage der Personen. Im 20. Jahrhundert wird diese Kritik von Arnold Zweig auf ähnliche Weise wiederholt.

Der wachsende Erfolg des Stücks

Trotz der z.T. berechtigten Kritik war der Erfolg des Lustspiels nicht aufzuhalten. Seine letztlich nicht bestreitbaren Qualitäten machten es besonders nach dem zweiten Weltkrieg zu einem nicht mehr wegzudenkenden Teil des klassischen Bühnenrepertoires. Besonders der 1937 entstandene Film von Gustav Ucicky, mit Emil Jannings in der Hauptrolle, trug zu seiner breiten Wirksamkeit bei.

Georg Lukács' Ausführungen ("Die Tragödie Heinrich von Kleists", 1936) machen den Stellenwert des Dramas, das er zu recht in der realistischen Tradition der deutschen Literatur sieht, prägnant deutlich. Für ihn ist es

"ein großartiges Gemälde des damaligen Preußen (...). Die Willkür der patriarchalischen Gerichtsbarkeit auf dem Lande, die Misshandlung der Bauern durch die Obrigkeit, das tiefe Misstrauen der Bauern allem gegenüber, was von 'oben' kommt, ihr Gefühl, dass man sich vor der Behörde nur durch Bestechung und Betrug schützen kann, einerlei, ob diese Bestechung durch Geld, Geschenke oder sexuelle Nachgiebigkeit geschieht, ergibt zusammen ein hervorragendes realistisches Bild des damaligen ländlichen Preußen (...). 'Der zerbrochne Krug' ist künstlerisch Kleists vollendetstes Werk."

Georg Lukács


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