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Das Haiku - Weniger ist mehr Das Thema

Stand: 01.10.2012 | Archiv

Ein Pärchen sitzt zur Zeit der Kirschblüte im April im Yoyogi Park in Tokio | Bild: picture-alliance/dpa

In der schlichtesten Form steckt oft der höchste Gehalt an Geschmack, Ästhetik und Aussage, das gilt für die Büste der Nofretete genauso wie für die Sessel von Ludwig Mies van der Rohe. Auf nicht mehr als drei Zeilen bringt es die japanische Haiku-Dichtung, vor Überfrachtung geschützt durch das Gebot der Kürze und eine Reihe von formalen und inhaltlichen Kriterien. Innerhalb dieser strengen Vorgaben entfalten die dichten Gedichte ihre Aussage: teils assoziative Naturbetrachtung, teils tiefer Gehalt, teils schwebend zwischen beidem. Noch ist die Gemeinde der Haiku-Dichter und Anhänger (und das scheint nahezu gleichbedeutend zu sein) überschaubar, doch wächst mit dem Internet ihre Zahl. Haiku-Foren und Blogs ermöglichen eine leichte und vielen Menschen zugängliche Verbreitung, die Schlichtheit der Form ermutigt zum Selberdichten.

Die Geschichte

Man stelle sich vor: Japan in der Frühen Neuzeit, ein Wald, eine Gruppe adliger Männer, gelöste Stimmung. Am Anfang des Ausflugs steht ein Vers, am Ende ein Gedicht, an dem alle mitgewirkt haben. Gleichgültig, ob das nun Wahrheit oder Verklärung ist: die Entstehungsgeschichte der Haiku-Dichtung mutet märchenhaft an. Aus einem vorgegebenen Anfangsvers mit 17 Lautsilben, dem Hokku, entspann sich ein Kettengedicht (Renga), eine Abfolge von Kurzgedichten, die durch besondere Regeln miteinander verknüpft waren. Oft hatten sie einen scherzhaften Unterton (haikai): die Gattung Haikai Renga war geboren. Etwa gegen Mitte des 17. Jahrhunderts "verbürgerlichte" sich das adlige Gesellschaftsspiel und das Hokku verselbständigte sich zur eigenen Lyrikform. Einer der wichtigsten "Geburtshelfer" war Matsuo Basho, der von 1644 bis 1694 lebte und als ein Meister des Haiku gilt. Er löste die scherzhafte Anmutung und gab der Lyrik Impulse, die die Haiku-Dichter bis heute inspirieren. Ein anderer großer Könner des Kurzgedichts war Masaoka Shiki (1867-1902). Ihm wird die Rolle als Modernisierer und Wegbereiter ins 20. Jahrhundert zugeschrieben - und als Wortschöpfer des Begriffs Haiku aus Haikai und Hokku.

Die Form

Die Struktur des Haiku ist simpel: Bei dem Versuch, die japanischen Lauteinheiten (Moren) ins Deutsche zu übertragen, entsprechen etwa 17 Silben den Moren eines Haiku. Daraus ergibt sich ein Reimschema von fünf Silben in der ersten Zeile, sieben Silben in der zweiten und erneut fünf Silben in der dritten Zeile. Einerseits liegt in diesem Schema eine Art sportlicher Aufgabe, sich - so wie es die Japaner jahrhundertelang gemacht haben – an dieser Form auszurichten. Andererseits ist sie nicht ohne weiteres aufs Deutsche oder andere westliche Sprachen übertragbar. So kann ein 19-silbiges Haiku als kurz, eines mit 15 Silben aber als lang empfunden werden (man vergleiche nur die jeweils einsilbigen Wörter "so" und "Schlamm"). Das Haiku trägt keinen Titel, es muss sich nicht reimen und wird im Japanischen in einem Atemzug vorgetragen.

Der Inhalt

Die einfache Struktur des Haiku korrespondiert nur scheinbar mit seinem schlichten Inhalt. Denn was auf den ersten Blick wie eine bloße Beschreibung aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als kunstvolle Dichtung, die gerade deshalb so wirkungsvoll ist, weil sie mit so wenigen Worten auskommt. Am Anfang jeder Haiku-Dichtung steht die Liebe zur Natur und die Hinwendung auch zu den kleinsten Dingen.

"Durch den Glauben an das Große im Kleinen hat die japanische Literatur die größte aller kleinen Gedichtformen hervorgebracht"

Hans-Peter Kraus

Kirschblüte im April im Yoyogi Park in Tokio

Ausgangspunkt war und ist für die traditionellen japanischen Lyriker ein so genanntes Jahreszeitenwort, das eine der wichtigsten inhaltlichen Haiku-Grundsätze garantiert: die Gegenwärtigkeit. An den Bezug zur Jahreszeit schließt sich meist eine Naturbeobachtung an - die entweder mit scheinbar Gegensätzlichem konfrontiert wird oder in der dritten Zeile ausklingt. Keinesfalls aber gibt es eine Deutung, einen abschließenden Kommentar oder eine Spiegelung der Dichter-Befindlichkeit. Auch für Metaphern oder neue Wortschöpfungen bietet die Form keinen Platz, zumal das Haiku-Gebot, kurz und konkret zu schreiben, verletzt würde. Als Beispiel für die Umsetzung all jener Vorgaben kann das meistzitierte Haiku der Literaturgeschichte von Matsuo Basho dienen:

Der alte Teich
Ein Frosch springt hinein
Vom Wasser ein Geräusch.

Weltweite Wirkung

Auch wenn das Haiku eng mit der japanischen Kultur verbunden ist - die Schlichtheit der Form spricht Menschen weltweit an. Der Haiku-Dichter Gerd Börner formuliert es so:

"Die Menschen dieser Erde leben in den unterschiedlichsten Klimazonen und Kulturen, reagieren auf völlig andere Schlüsselwörter oder Schlüsselthemen, als sie im klassischen Haiku einmal vorgedacht waren. Diese Menschen beschreiben das Wunder des Augenblicks in der Natur und all das, was menschlich erfahrbar ist, um diese Wunder wenigstens für einen Atemzug mit dem Leser zu teilen."

Gerd Börner

Das "Welthaiku" hat mit dem Internet eine ideale Verbreitungsform. Dort finden sich viele Beispiele für traditionelle und moderne Dichtungen – wie etwa der Dreizeiler von Hans Lesener:

Die Fähre legt ab
Möwenschwärme
zwischen dir und mir.

Foren und Blogs motivieren zum Schreiben und senken die Schwelle, selbst zu veröffentlichen. Die höher Ambitionierten können ihre Gedichte bei Haiku-Wettbewerben einreichen. Als Qualitätsmerkmal gelten heute mehr noch als das Silbenschema und der Jahreszeitenbezug die von Masaoka Shiki geforderte Echtheit und Unmittelbarkeit des Augenblicks als wichtigstes Gestaltungskriterium. Durch das Aufeinandertreffen westlicher Denk- mit östlicher Dichtweise entstehen oft spannende Formen, als Beispiel sei das Haiku von Jochen Hahn-Klimroth zitiert:

Allein gewandert.
Am Abend der fremde Klang
meiner Stimme.

Auch wenn manche Kritiker mahnen, das Haiku verwestliche und sein eigentliches Wesen werde nur in Ostasien verstanden: das Einsickern in die westlichen Kulturen zeigt, wie lebendig die alte Dichtkunst ist und wie viel Entwicklungsspielraum sich noch bietet.

Das Geheimnis

Der deutsche Lyriker Hubertus Thum beschreibt Haiku als Gedichte, die die Welt vergessen hat und die nun als Kiesel am Wegrand liegen und darauf warten, dass sie jemand aufhebt. Steinchen sammeln vor allem Kinder - hier begegnet Thum dem Großmeister Basho, der davon gesprochen hat, dass man zum kleinen Kind werden müsse, um Haiku zu dichten. Dann verleiht vielleicht die Fantasie die Fähigkeit, zwischen den Haiku-Zeilen zu lesen und seine Botschaft zu entschlüsseln. Demnach würde das Haiku erst im Kopf des Lesers und durch sein Mit- und Nachtfühlen fertig, es wäre grundsätzlich unvollendet. Allerdings stellt sich die Frage, ob das Ungesagte mitgelesen werden will - denn vielleicht handelt es sich nur um unsere eurozentristische Sicht, die einen Sinn unterstellen will, wo keiner hineingelegt wurde. Was also drückt das Haiku aus: die ganze Welt oder nicht mehr und nicht weniger als die Beobachtung eines Augenblicks? Oder passiert das eine im anderen und liegt die Kunst des Haiku-Dichtens und -Lesens darin, genau das zu entdecken? Laut Roland Barthes lässt das Haiku "Wort und Ding in eins fallen", der Antagonismus von Sprache und Sache ist aufgehoben, die Bedeutung liegt in den Worten selbst und nicht zwischen ihnen. Vielleicht aber bleibt beim Haiku dieser Punkt einfach offen: Wer einen Sinn im Haiku sucht, findet ihn - alle andere lesen oder hören einen Dreizeiler von bemerkenswerter Schlichtheit. Zuweilen verbunden, wie im letzten Haiku von Matsuo Basho, mit einer fast schon nicht mehr menschlichen Weisheit:

Zu Ende das Wandern:
Mein Traum, auf dürrer Heide
huscht er umher.


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