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Kommentar Die EU muss mit der Türkei weiterhin Beitrittsverhandlungen führen

In der aktuellen Situation ist diese Forderung wenig populär: Die Europäische Union sollte die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht beenden. Warum? Das erklärt Sebastian Schöbel in seinem radioWelt-Kommentar.

Von: Sebastian Schöbel, ARD-Studio Brüssel

Stand: 09.08.2016

EU Fahne und die türkische Flagge vor der Nur-u Osmaniye Moschee in Istanbul | Bild: picture-alliance/dpa Tolga Bozoglu

Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan verdienen einander: Beides lupenreine Autokraten, vereint in ihrer Angst vor freier Meinungsäußerung, demokratischer Kontrolle und fehlendem Respekt - vor allem durch den Westen.

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Wäre die Weltpolitik eine Dating-App, sie hätte den berechnenden Moskauer Alleinherrscher und den selbstverliebten Sultan von Ankara längst zusammengeführt. Tyrann sucht Tyrann, sozusagen.

Nur dass der eine eben ein Land regiert, dass einst auf dem Weg nach Europa war: So dramatisch die Entwicklung in der Türkei nach dem gescheiterten Putsch auch sein mag, es gibt dort noch immer Millionen von Menschen, die sehnsüchtig nach Brüssel schauen, nicht nach Ankara. Die den Wunsch nach einen EU-Beitritt noch nicht aufgegeben haben, und die in den Verhandlungen eine Chance sehen, dass das Land auf den Weg zu mehr Freiheit und Demokratie zurückkehrt.

Deswegen wäre es falsch, wenn aus dem Treffen zwischen Putin und Erdogan nun ein weiterer Sargnagel für die türkisch-europäische Annäherung gemacht werden würde.

Mehr statt weniger Bemühen um die Türkei wäre sinnvoll

Stattdessen sollte die EU ihre Bemühungen um die Türkei intensivieren: Indem man die Beitrittsverhandlungen fortführt statt sie infrage zu stellen - und populistisches Getöse der aktuellen Regierung ignoriert; indem man die im Flüchtlingsabkommen versprochenen Gelder noch zügiger sinnvoll ausgibt; indem man die Visaliberalisierung transparent und ehrlich vorantreibt statt immer nur zu betonen, was alles nicht erfüllt wird, nur um rechte Populisten daheim kaltzustellen.

Wegen eines Präsidenten nicht die ganze Türkei aufgeben

Ob die EU die Türkei braucht, als Flüchtlingsbollwerk oder als Exportmarkt, ist nebensächlich: Hier geht es um die Frage, ob wir ein ganzes Volk, dass einmal als ganz selbstverständlich europäisch galt, aufgeben. Weil ihre derzeitiger Präsident die Selbstbeherrschung und Grausamkeit eines bockigen Kindes an den Tag legt.

Die EU muss Leidenschaft zeigen, sonst tun es Leute wie Putin

Lässt Europa die Türkei nun angewidert fallen, wird Erdogan dafür sorgen, dass sie von Leuten wie Putin aufgefangen wird. Und das kann niemand ernsthaft wollen. Die Europäische Union muss endlich Leidenschaft zeigen - auch für Länder wie die Türkei, deren Zuneigung sie sich erarbeiten muss.


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