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"Der große Unbekannte" Zur Erinnerung an den Universalkünstler Ror Wolf

Die Sprache, ein wuchernder Organismus, erschafft alles Mögliche und Unmögliche und läßt es wieder kollabieren. "Ich setze aufs Wort", sagte der Schriftsteller, Künstler, Fußball- und Jazz-Fan. Ein Schüler von Th. W. Adorno, ein Reisender, ein Suchender, einer, der verschiedene Wirklichkeiten zusammenfügt, Redesplitter und Sprachfragmente. Cornelia Zetzsche hat Ror Wolf vor zwei Jahren in seiner wundersamen, poetischen "Wirklichkeitsfabrik" auf dem Mainz Kupferberg besucht und erinnert noch einmal an den Ausnahmekünstler, der am 17. Februar im Alter von 87 Jahren gestorben ist

Von: Eva Demmelhuber

Stand: 18.02.2020

Ror Wolf | Bild: picture-alliance/dpa

"Das große Welttheater in allen Tonarten"

Im Juni vor zwei Jahren besuchte Cornelia Zetzsche den Ausnahmekünstler zu seinem 85. Geburtstag in seiner Wohnung auf dem Kupferberg mit Blick auf die Stadt Mainz und den Rhein.

Cornelia Zetzsche: „Wie sieht denn Ihr Arbeitsplatz aus? Vielleicht können wir das den Hörer*innen ein bisschen beschreiben?“

Ror Wolf: „Ich habe keinen bestimmten Arbeitsplatz, ich arbeite heute nicht mehr, aber in diesem Zeitraum, in dem ich wirklich gearbeitet habe, 24 Stunden am Tag, das heißt, ich bin immer bereit zu dichten, wenn mir danach zumute ist. Daraus hat sich eine Methode entwickelt. Und diese Methode heißt, wenn ich einen Einfall habe, irgendwo auf einer Bank oder im Kino oder irgendwo, dann notiere ich diesen Einfall. Und diese Menge von Notaten, die da tagsüber zusammenkommen, werte ich abends an einem Arbeitstisch aus. Ich prüfe sie, ich erweitere sie oder ich streiche sie.“

„Sie schreiben Literatur, deren Grundstimmung ein Komplott ist, aus Leichtigkeit, Schwermut, spielerischem Ernst, Skurrilität Lust, Spaß und Entsetzen. „Das ist alles, was ich am Ende zu sagen habe“, das klingt nach einem großen Welttheater in allen Tonarten.“

„Ja, es ist auch ein großes Welttheater in allen Tonarten. Nur auf der kleinen Bühne, die mir hier zur Verfügung steht.“

„Ihre Texte sind ein enormer, assoziativer Wortschwall, es sind collagierte Texte. Man fragt sich, wie Sie das am Abend letztendlich zusammenfügen? Wie sieht das in der Werkstatt von Ror Wolf aus?“

„Das ist eine sehr, sehr kluge Frage, und es ist auch nicht so, dass ich am Abend das Material, das ich am Tage aufgeschrieben habe, verwehrte. Das hab ich nur so zusammenfassend gesagt. Dieses aufgeschriebene, notierte Material kommt in Mappen. Dort wird es abgelagert, erweitert, verwendet, aber nur in diesem winzigen Bereich. Und wenn ich mich entschließe, ein dickes Buch zu schreiben, einen Roman oder irgendeine lange Geschichte zu schreiben, dann kann ich zurückgreifen auf dieses Material. Ich bin nicht der einzige Autor, der so verfährt. Einer von mir bewunderten Autoren aus den sechziger Jahren, den fünfziger Jahren war Arno Schmidt, der einen großen Zettelkasten hatte und so ähnlich verfahren ist.“

„Eine wichtige Komponente bei ihren Texten ist auch die Musikalität. Musik ist ihnen wichtig. Hören Sie Musik beim Schreiben?“

„Ich höre Musik beim Schreiben ja ganz wesentlich. Ich kann ohne Musik überhaupt nicht leben. Also im Moment ist keine Musik da. Aber wir könnten ohne weiteres sofort Musik machen. Ich habe eine große Plattensammlung. Ich habe eine große Bändersammlung. Ich bin Jazzfan, aber nicht nur, ich mag auch andere Musikrichtungen. Während des Schreibens läuft bei mir in der Regel Musik, die mich belebt und von der ich gewissermaßen sogar abhängig bin.“

„Eigentlich sind Sie sogar ein dreidimensionaler Künstler mit Bild, Ton, Text. Sie machen Collagen als Künstler, Sie schreiben und Sie sind ein ganz großer - heute würde man sagen – ein ganz großer Performer. Alles Akustische, der Klang ist wichtig. Wie greifen diese drei Dinge ineinander?“

„Ganz unbewusst ist das selbstverständlich bei mir. Ich bin stark interessiert an all diesen drei Dingen. Ich spiele leider kein Instrument. Ich habe etwas Schlagzeug gespielt. Das war noch in Saalfeld in der DDR. Wir hatten eine kleine Jazz Band. Das war damals nicht ganz einfach. Aber wunderbar. Einmal in der Woche haben wir uns getroffen und dort musiziert, und ich hab das Schlagzeug gespielt. Also ich hab ein bestimmtes Rhythmusgefühl, das werden Sie in meinem Gedichten bemerken. Deswegen habe ich bestimmte Reimstrukturen, Aufbaustrukturen. Ich könnte natürlich auch bequem reimlose Gedichte schreiben, das geht schneller und ist üblich heute. Man wird ja relativ altmodisch, wenn man Gedichte reimt. Es gibt immer wieder Leute, die sagen, was soll denn das noch. Ich meine, heute oder in den Fünfzigerjahren war es vor allem so, dass man jemanden, der reimte, nicht ernst nahm.“

„Ihr Lebenswerk ist ein musikalischer Kosmos aus Reisen, aus Entdeckungsreisen, aus Abenteuern, im Zentrum gerne Herren mit Hut, mit Spazierstock in kollabierenden Kulissen, oft am Ende der Welt oder zumindest unterwegs dorthin, meist am Abgrund unterwegs nach Norden, nach Süden, wohin auch immer, so genau weiß man das nicht, garantiert ohne Navi, wie heute üblich, Forschungsreisende wohin, ins Innere der Welt oder wie würden Sie das beschreiben?“

„Ich glaub, ich kann da sehr persönlich werden: Als ich die DDR verließ, also 1953 nach dem 17. Juni, bin ich ohne Ziel und ohne Anlaufstation nach Westdeutschland gekommen. Und dort musste ich mich irgendwie orientieren und zurechtfinden. Ich hatte keine Menschen, die mich aufgenommen hätten. Ich musste das alles erledigen, musste Arbeitsbereiche betreten, die ich nie betreten hätte. Dreck wegmachen. Einfaches. Im Übrigen muss ich dazu zu sagen, bin ich in der DDR nach dem Abitur nicht zum Studium zugelassen worden. Ich habe zwei Jahre dort als Bauarbeiter gearbeitet, und das war auch nichts für mich. Das war nicht mein Berufswunsch. Das musste ich machen. Und das ging in Westdeutschland zunächst so weiter. In Stuttgart habe ich ein Jahr gelebt, und dort habe ich alle möglichen kleinen Drecksarbeiten machen müssen, die gerade da waren und die mir eine Mark in der Stunde eingebracht haben. Auf diese Weise ist möglicherweise eine Weltsicht entstanden, die nach Orientierung sucht. Nach einer Richtung sucht, immer und fortwährend tagein, tagaus, von  morgens bis abends. Wo bin ich morgen? Wo gehe ich hin? Wo fange ich an zu studieren? Wo ist ein Zimmer, in dem ich wohnen kann? Ich bin 33 mal umgezogen in diesem Zeitraum, weil  es keine Wohnungen gab damals. Ich bin schon, als ich in der DDR wohnte, jedes Jahr einmal über die Grenze in Thüringen nach Westdeutschland gegangen und bin dort mit Autostopp irgendwo hingefahren. Es war mir nur wichtig, irgendwo hinzukommen. Es war mir gleich, ob es Nürnberg, Frankfurt, Würzburg oder Aschaffenburg war, das war mir vollkommen egal. Ich wollte unterwegs sein, das war wesentlich für mein Gemüt. Ich bin so, das gehört es zu meinen Leidenschaften. Es war vielleicht auch eine Entscheidung: Ich hab mich gegen etwas gewehrt, gegen die Einschränkung und die Einbindung in der Deutschen Demokratischen Republik.“

„In Ihren Büchern geht es makaber zu, Tiere fallen von Decken, Böden tun sich auf oder bekommen Pusteln, Wände bekommen Risse. 1964 begann Ihre schriftstellerische Laufbahn mit „Fortsetzung des Berichts“, gefeiert als deutschsprachiger Nouveau Roman. Handke fand in dem Bewusstseinsstrom eine neue sprachliche Form. Sie haben viele Bewunderer unter Autoren, Brigitte Kronauer ist eine von mehreren, vom Fußball aber, einem ihrer Klassiker. wie wir eingangs sagten, haben sie sich 1990 schon verabschiedet. Warum?“

„Ich hab mich nicht verabschiedet, ich hab nichts mehr gemacht zu diesem Thema, weil ich zu diesem Thema außerordentlich viel Intensives gemacht habe. Ich habe, glaube ich, zehn Collagen gemacht, die übrigens sehr viel Arbeit gemacht haben. Ich habe mein Material erst mal zusammensuchen müssen. Ich bin ja selbst mit dem Aufnahmegerät durch die Stadien gegangen und bei Trainingseinheiten gewesen. Bei meiner Mannschaft „Eintracht Frankfurt“, damals nicht Deutscher Meister, aber immerhin mit fabelhaften Fußballspielern wie Grabowski und Hölzenbein und so weiter, Freunde von mir, mit denen ich per du bin, da bin ich sehr stolz darauf. Aber ich hatte dann irgendwann den Eindruck, jetzt habe ich alles gemacht, was ich dazu machen wollte. Jetzt kann ich mich in aller Ruhe einem anderen Thema zuwenden oder den alten Themen zuwenden“

„Aber Sie sind noch Eintracht Fan oder?“

„Ich bin noch ein Eintracht Fan. Aber ich muss gestehen, dass meine Neigung, jeden Samstag da zum Spiel zu gehen, nicht mehr vorhanden ist.“

„Danke für die Auskünfte.“

radioTexte - Das offene Buch am 23. Februar auf Bayern 2

Ror Wolf Gesamtausgabe bei Schöffling & Co

Cornelia Zetzsche erinnert am Sonntag, dem 23. Februar an den großen Universalkünstler Ror Wolf, der am 17. Februar gestorben ist. Eine Hommage an den großen Dichter mit Auszügen aus verschiedenen Werken und einem Gespräch aus einem Besuch in seiner Künstlerwerkstatt in Mainz vor zwei Jahren. Es lesen Ror Wolf und der Schauspieler Thomas Loibl.

radioTexte - Das offene Buch, immer sonntags um 12.30 Uhr auf Bayern 2

Redaktion und Moderation: Cornelia Zetzsche


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