Bayern 2 - radioTexte


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Oliver Sacks Filter-Fisch und fragile Realitäten

Der Professor für Neurologie und Psychologie, der 2015 verstarb, hat mit seinen „Fallgeschichten“ Millionen Leser weltweit fasziniert. Und gezeigt, wie fragil oder gar verdächtig das „Normale“ sein kann. Nun ist sein wohl letztes Buch erschienen - weitere Fallgeschichten und viele Erinnerungen aus einem reichen Leben. Lesung mit Stefan Wilkening

Von: Kirsten Böttcher

Stand: 18.03.2020 | Archiv

Dr. Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City.
Fotograf: Johnathon Henninger/Connecticut Post via AP (2005) | Bild: picture-alliance/dpa/AP Photo

Er war einer der berühmtesten Neurologen der Welt. Das lag wohl auch an seiner zweiten großen Leidenschaft, dem Schreiben. Oliver Sacks psychologischen und neurologischen „Fallgeschichten“, die er zur literarischen Kunst erhob, schilderten seine Patienten nicht nur als leidende Individuen; es waren „Überlebensgeschichten“, Geschichten darüber, wie man mit Krankheiten leben kann. Sein literarischer Erstling "Zeit des Erwachens" (1973), der von Opfern der Europäischen Schlafkrankheit handelt, wurde gleich ein internationaler Bestseller. Die Verfilmung mit Robin Williams und Robert De Niro ist ein Klassiker. „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ war ein weiterer Erfolg des 1933 als Sohn einer Londoner Arztfamilie geborenen Multitalents.

Das Vermächtnis eines Autors von Weltrang

Zeitlebens liebte Sacks den Geruch, die Schwere, den stillen Genuss von Büchern in Bibliotheken.

Als Sacks 2015 an Leberkrebs starb, hinterließ er eine Fülle von Aufzeichnungen: über Depressionen und Psychosen, über das Tourette-Syndrom und Demenzerkrankungen, Träume und Halluzinationen. Seine Mitarbeiter haben daraus ein letztes Buch zusammengestellt, in dem der stets hellwache Entdecker zwar auch von neurologischen „Fällen“ berichtet, aber ebenso einige seiner Passionen preisgibt: sein Faible für Farne, für Gingkobäume, das ausgiebige Schwimmen in Seen und Flüssen, seine ewige Liebe zu Bibliotheken und zu einer Spezialität der jüdischen Küche: Gefilter Fisch - oder wie seine Haushälterin immer sagte: „Filter-Fisch“.

"Ich kann nicht mehr als siebzig bis hundert Gramm zur Zeit essen, doch eine entsprechende Menge Gefilter Fisch jede wache Stunde versorgt mich mit dem so dringend benötigten Protein... Gefilter Fisch wird mich aus dem Leben geleiten, so wie er mich vor zweiundachtzig Jahren hinein begleitet hat."

(Oliver Sacks, Alles an seinem Platz)

In „Life continues“ hält sich Sacks, der mit Mitte zwanzig in die USA übergesiedelt war und später eine Praxis in New York führte, mit Kritik an den Veränderungen in einer digitalisierten Welt nicht zurück.

"Wer in dieser virtuellen Welt gefangen ist, ist nie allein, nie in der Lagen, sich auf seine eigene, stille Weise zu konzentrieren und wahrzunehmen. Er hat die Annehmlichkeiten und Errungen schaften der Zivilisation weitgehend aufgegeben: Alleinsein und Muße, den Vorzug, allein, wirklich vertieft zu sein, gleich, ob in ein Kunstwerk, eine wissenschaftliche Theorie, einen Sonnenuntergang oder das Antlitz eines geliebten Menschen."

(Oliver Sacks, Alles an seinem Platz)

1960 zog es Sacks in die USA, zunächst ans Mt. Zion Hospital in San Francisco. Abends setzte er sich aufs Motorrad.

Das klingt konservativ, doch so einfach war es nie mit Oliver Sacks und den Schubladen. Einerseits war der Mediziner stets ein fleißiger Forscher, der an den renommiertesten Universitäten und Kliniken arbeitete, doch abends tauschte er den weißen Kittel gegen die Motorradkluft, war zeitweise drogensüchtig, stellte Rekorde im Gewichtheben auf und hatte schwer damit zu kämpfen, dass er wegen seiner Homosexualität von seinen Eltern ausgeschlossen wurde. Mit 75 Jahren fand Sacks seine große Liebe.

Seine letzte Fallgeschichte war er selbst - seinen Leberkrebs beobachtete er ebenso neugierig und unpathetisch wie er es auch bei seinen Patienten getan hatte. Die abschließende Story in seinem neuen Buch „Alles an seinem Platz“ endet auch folgerichtig mit einer kurzen Eloge auf die Wissenschaft.

"Sosehr ich gute Literatur, bildende Kunst und Musik zu schätzen weiß, scheint mir doch, dass nur die Wissenschaft, geleitet von menschlichem Anstand, gesundem Menschenverstand, Weitsicht und Mitgefühl für die Unglücklichen und Armen, irgendeine Hoffnung bietet, die Welt aus dem Sumpf zu befreien, in dem sie steckt."

(Oliver Sacks, Alles an seinem Platz)

Oliver Sacks "Alles an seinem Platz"

Erste Lieben und letzte Fälle

Lesung mit Stefan Wilkening am 24. März in den radioTexten am Dienstag, kurz nach 21 Uhr auf Bayern 2

Redaktion und Moderation: Antonio Pellegrino

Das Buch "Alles an seinem Platz" von Oliver Sacks, aus dem Englischen von Hainer Kober übertragen, ist bei Rowohlt erschienen.

Unsere Lesungen können Sie nachhören: auf dieser Seite im Stream, als Download im Podcast-Center des Bayerischen Rundfunks und überall, wo es Podcasts gibt.


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