Bayern 2 - radioTexte


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"Oben wohnen immer die Mörder!" Pierre Jarawan: "Ein Lied für die Vermissten"

"Schon ein Sandkorn genügt, um ein große Geschichte daraus zu machen." Das erzählt dem jungen Amin der ehemalige Leiter der im Bürgerkrieg total zerstörten Nationalbibliothek in Beirut. Amin erfährt dort von der Kraft der Geschichten, in deren Welt er wie auf einem "Zeitstrahl durch die Jahrhunderte wandeln" kann. Kunstvoll verwebt der Schriftsteller Pierre Jarawan 20 Jahre Geschichte der einstmals so prächtigen und liberalen Stadt Beirut mit den Verbrechen des Bürgerkriegs, der 15 Jahre lang den Libanon ins Chaos stürzte, mit den Vermissten und der Familiengeschichte seines Ich-Erzählers.

Von: Eva Demmelhuber

Stand: 02.05.2020

Schriftsteller Pierre Jarawan | Bild: Eva Demmelhuber

Den im libanesischen Bürgerkrieg Vermissten eine Stimme geben, das war Pierre Jarawans literarisches Anliegen. Erst vor einigen Jahren versuchte er sich als Photograph mit Portraits von Geflüchteten, gab den Menschen in seinem Photoband "Paradise lost" ein Gesicht. Jetzt in seinem zweiten Roman, "Ein Lied für die Vermissten", schreibt er gegen das Vergessen, das Vergessen des Bürgerkriegs, der zwischen 1975 und 1990 das Land seines Vaters, den Libanon, ins Chaos stürzte; ein Denkmal für die 19.415 Verschwundenen, die eines Morgens ihr Haus verließen und am Abend nicht mehr zurück kamen. Diese Schicksale ließen der Autor nicht mehr los, zumal ein neues Gesetz diesen Kriegsverbrechern Amnestie gewährt. Fast drei Jahre lang hat der ehemalige Poetry-Slammer recherchiert, in Archiven in Beirut, mit Mitarbeitern des Roten Kreuzes gesprochen, die die Angehörigen der Vermissten betreuen.

Im Gespräch: Schriftsteller Pierre Jarawan und Literaturexpertin Cornelia Zetzsche

"In dem Roman wird ja auch Zeitgeschichte erzählt, und ich habe eben lange nach der richtigen Perspektive gesucht. Während Amin der Suchende ist, der sich während der Geschichte mit einem Rätsel konfrontiert sieht, mit einer sehr verschwiegenen Gesellschaft, zu der er keinen Zugang findet, ist die Großmutter eben in der Rolle der Zeitzeugin, die stellvertretend steht für diese Gesellschaft, die nur über das spricht, was der nachfolgenden Generation vielleicht auch nur Ansatzpunkte liefert. Sie steht auch für dieses Schweigen über die Vergangenheit, aber auch für eine direkt betroffene Zeitzeugin."

Pierre Jarawan im Gespräch mit Cornelia Zetzsche

"Unser Land ist ein Haus mit vielen Zimmern, Amin. In einigen Räumen wohnen die, die sich an nichts erinnern wollen. In anderen hausen die, die nicht vergessen können. Und oben wohnen immer die Mörder." Das erzählt Amins Großmutter beim Blick über Beirut. Jeder im Libanon weiß um die Toten, die Verbrechen aus dieser Zeit, aber keiner redet darüber. Dass Amin sich bei seinen Abenteuern womöglich auf einem Terrain bewegt, unter dem Hunderte Leichen begraben liegen, ist ihm nicht bewusst. Zunächst. Erst ein Murmelspiel lüftet das Geheimnis.

"Ein einzigies Sandkorn genügt, um daraus eine große Geschichte zu machen"

Das erfährt Amin, als er Arbeit findet, beim Wiederaufbau des total zerstörten Nationalmuseums. Dort in der Bibliothek fällt ihm ein Mann auf, der zwischen Schutt und Asche und verbrannten Buchseiten auf dem Boden hockt und die Buchreste durch seine Finger rieseln lässt, Saber Mounir, der ehemalige Bibliotheksleiter. Amin entdeckt durch ihn die Welt der Bücher, reist in ihnen durch die Geschichte, durch verschiedene Welten. Saber erzählt ihm von den Hakawatis, den Geschichtenerzählern, die einstmals großes Ansehen besaßen.

"Die Hakawati sind Meister darin, ihre Zuhörer zu verführen. Sie nehmen die Rollen verschiedener Charaktere ein, spielen mit Akzenten und Dialekten, machen ihre Figuren lebendig. Und wenn die Spannung am größten ist, brechen sie ab und gehen nach Hause. 'Einfach so?'
'Einfach so. Es ist ein Trick. Sie machen süchtig. Die Legende besagt, dass Ahmad al-Saidawi, einer der berühmtesten Hakawati des achtzehnten Jahrhunderts, in einem Café in Aleppo eine Geschichte erzählte, die dreihundertzweiundsiebzig Abende lang andauerte und so spannend war, dass der Gouverneur ihn anflehte, sie abzukürzen, weil er endlich ihre Auflösung hören wollte.'
'Dreihundertzweiundsiebzig', staunte ich."

aus: 'Ein Lied für die Vermissten', erschienen im Berlin Verlag

"Im Libanon gibt es keine Sprache für das Erinnerte"

"Der Libanon ist das einzige arabische Land, in dem es keine Wüste gibt. Doch das stimmt nicht", schreibt Pierre Jarawan, "in ihr gibt es kein Erinnern, das sich in Sprache fassen lässt. Keine Sprache für das Erinnerte. Das Schweigen, nach dem du fragst, ist tiefer als Stille. Weil Stille nie wirklich alles verschluckt. Selbst im kleinsten Raum bleiben das Ticken einer Uhr oder das Brummen des Kühlschranks. Dazu draußen vor dem Fenster gedämpfter Rummel, alltägliches Leben. Ruhe, Lautlosigkeit, Stille, es gäbe viele falsche Wörter. Das Schweigen aber ist anders. Es dehnt sich über jeden Horizont und frisst, was es berührt, und jede Gewissheit, die zu finden du gehofft hast, stiehlt sich davon wie ein behandschuhter Dieb."

Atmospärisch dicht beschreibt Pierre Jarawan auch das einstige Leben in Beirut, dem "Saint-Tropez der Levante", in dem alle Religionen friedlich nebeneinander koexistierten, von Jazzbars bis zum traditionellen Bauchtanz. Er entfächert einen Kosmos über 20 Jahre libanesischer Geschichte, verbunden mit dem Leben von Amin und seiner Großmutter, und seinem Freund Jafar. In drei Strophen stimmt Pierre Jarawan „Ein Lied für die Vermissten“ an, auf drei zeitlichen Ebenen. 1994: Amin ist fremd in Beirut, und fremd sind ihm die ominösen Freunde der Großmutter, die ein Geheimnis verbirgt. In der Freundschaft zu Jafar und im Nationalmuseum findet er Zuflucht. 2006 ist Beirut wieder Zielscheibe, diesmal im Libanonkrieg zwischen Hisbollah und Israel. 2015 keimt Hoffnung im Arabischen Frühling.

3-teilige Lesung mit dem Schauspieler Shenja Lacher

Schauspieler Shenja Lacher

Anrührend, spannend und packend liest Shenja Lacher an drei Sonntagen die Geschichte von Amin, den Greueltaten des Bürgerkriegs und den Vermissten im Libanon.

Teil 1 am 26. März

Teil 2 am 3. Mai

Teil 3 am 10. Mai

jeweils im 12.30 Uhr in radioTexte - Das offene Buch auf Bayern 2

Und Schriftsteller Pierre Jarawan erzählt über sein Buch und seine Recherchen.

Redaktion und Moderation: Cornalia Zetzsche

Pierre Jarawan wurde 1985 als Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter in Amman, der Hauptstadt des Königreichs Jordanien, geboren, nachdem seine Eltern wegen des Bürgerkriegs aus dem Libanon geflohen waren. Über Saudi Arabien kam die Familie nach Deutschland und fasste im württembergischen Kirchheim/Teck Fuß, Pierre Jarawan war drei Jahre alt. Von der Erzählkunst seines Vaters animiert, von seinen phantasievollen Gute-Nacht-Geschichten, begann Pierre Jarawan schon früh Texte zu schreiben. Sein erstes Gedicht verfasste er mit 13 Jahren. Sein Debüt "Am Ende bleiben die Zedern" war ein großer Erfolg und wurde in viele Sprachen übersetzt. Heute lebt der Schriftsteller und Poetry-Slam-Meister in München.


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