Bayern 2 - radioTexte


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Zum 100. Geburtstag Marcel Reich-Ranicki erzählt "Mein Leben"

Bis heute ist er immer noch der berühmteste Literaturkritiker Deutschlands. Zu seinem 100. Geburtstag am 2. Juni lassen die radioTexte den „Literaturpapst“ noch einmal das tun, womit er so fesseln konnte: erzählen. Marcel-Reich-Ranicki hat seine Autobiografie „Mein Leben“ (1999) noch selbst eingelesen; die radioTexte bringen einen Auszug. Im Gespräch dazu: Eva Demski, Schriftstellerin und ehemalige Frankfurter Nachbarin des Literaturkritikers.

Von: Kirsten Böttcher

Stand: 22.05.2020 | Archiv

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (aufgenommen am 15.04.1991 in seiner Frankfurter Wohnung). Fotograf: Frank Kleefeldt | Bild: picture-alliance/dpa/Fotoreport

„Kritiker, die nicht gehasst werden, taugen gar nichts.“ Solch zündelndes Wort wagte nur einer in der Bücherbranche: der bis heute immer noch berühmteste Literaturkritiker Deutschlands. Nur ihm war es offensichtlich möglich, eine breitere Masse für neue Bücher zu begeistern. Nur er teilte das Meer der Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt so eindeutig, so publikumswirksam ein in gut oder schlecht. Doch als Marcel Reich-Ranickis zweite Karriere, die des schillernden Literaturleitkritikers des "Literarischen Quartetts", begann, war er mit 67 Jahren eigentlich im Rentenalter. Bevor sich der angesehene Kritiker in Frankfurt endgültig niederließ, hatte der in Polen geborene Marceli Reich schon einige andere Berufe ausgeübt, Kämpfe auf ganz anderen Gebieten ausfechten müssen. Zeitlebens blieb Deutschland, die deutsche Kultur, eine ambivalente Erfahrung für ihn - unvergesslich der Holocaust auf der einen Seite, doch auf der anderen Seite war seine unumstößliche Leidenschaft für deutschsprachige Bücher.

Das "Land der Kultur"

Als Marceli Reich 1929, er war kaum neun Jahre alt, aus seiner polnischen Geburtsstadt Wloclawek an der Weichsel nach Berlin übersiedelte, wurde er von seiner Lehrerin mit den Worten verabschiedet: „Du fährst, mein Sohn, in das Land der Kultur.“ Weniger als zehn Jahre später sollte sich das "Land der Kultur“ dem jüdischen Jungen von seiner hässlichsten Seite zeigen. Reich lebte bis 1938 in Berlin, bis er von den Nazis ausgewiesen wurde, kurz nach seinem Abitur. Nach der Deportation in sein Heimatland überlebte er nur knapp das Warschauer Ghetto. Fast seine ganze Familie fiel dem NS-Terror zum Opfer.

Nach dem Krieg lebte er zunächst in Polen, war Konsul und auch Spion für den Geheimdienst. Doch bald schon war er vom Kommunismus, von den Praktiken der polnischen Regierung enttäuscht, wollte raus aus der Politik und flüchtete mit seiner Frau Tosia und ihrem gemeinsamen zweijährigen Sohn zurück in das Land, dessen Buchkultur er kannte wie nur wenige, und das gleichzeitig das "Land der Täter" war.

Der "Literaturpapst"

"Die meisten Bücher, die wir im Quartett hier besprochen haben im Laufe der beinahe 14 Jahre, habe ich von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen. In den meisten Fällen war es eine Qual."

(Marcel Reich-Ranicki)

Sie schrieben Fernsehgeschichte: die Kollegen des "Literarischen Quartetts: Marcel Reich-Ranicki mit Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler.

Nichtsdestotrotz: Sein Kindheitstraum, Literaturkritiker zu werden, war schnell in die Tat umgesetzt: Reich-Ranicki war von 1960 bis 1973 Literaturkritiker der „ZEIT" und leitete von 1973 bis 1988 den Literaturteil der „FAZ“, wo er noch bis zu seinem Tod als Kritiker und Redakteur der „Frankfurter Anthologie“ tätig war. Von 1988 bis 2001 war er der führende Kopf der ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“. Vor dem Millenium war Marcel Reich-Ranicki nahezu allen Deutschen bekannt als der "Literaturpapst" und als enfant terrible der Medienlandschaft.

"Ich bin nur mit zwei deutschen Schriftstellern befreundet: mit Siegfried Lenz und Eva Demski. Deshalb schreibe ich keine Kritiken über deren Bücher. Eine Freundschaft zwischen einem Kritiker und einem Autor ist im Grunde unmöglich."

(Marcel Reich-Ranicki)

Seine 1999 erschienene Autobiographie "Mein Leben", die in den radioTexten in Auszügen zu hören ist, wurde zum Millionenbestseller und 2008 von Dror Zahavi mit Matthias Schweighöfer in der Hauptrolle verfilmt. Vielfach literarisch und akademisch ausgezeichnet, verstarb Marcel Reich-Ranicki 2013 in Frankfurt am Main.

Marcel Reich-Ranicki und Eva Demski in den radioTexten

Eva Demski erinnert sich in den radioTexten an ihren Freund Marcel Reich-Ranicki.

Am 2. Juni um kurz nach 21 Uhr in den radioTexten am Dienstag auf Bayern 2:

Marcel Reich-Ranicki liest aus "Mein Leben". Dazu führte Antonio Pellegrino ein Gespräch mit Eva Demski, der preisgekrönten Schriftstellerin, Freundin und langjährigen Frankfurter Nachbarin des Literaturkritikers. Zuletzt sind von Eva Demski im Suhrkamp Verlag "Den Koffer trag ich selber - Erinnerungen" und als Übersetzerin "Das Bett-Buch" von Sylvia Plath erschienen.

Das Hörbuch „Mein Leben“ ist in Zusammenarbeit mit hr2 im Hörverlag erschienen, das gleichnamige Buch bei der DVA

Unsere Lesungen können Sie nachhören: auf dieser Seite im Stream, als Download im Podcast-Center des Bayerischen Rundfunks und überall, wo es Podcasts gibt.


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