Bayern 2 - radioTexte


8

Unterwegs in den Favelas von Rio de Janeiro Geovani Martins' Debüt "Aus dem Schatten"

In einem ganz eigenen Ton schreibt Geovani Martins über das brutale Leben in den Favelas. Über Jugendliche ohne Perspektive zwischen Gewalt, Drogen und Diskriminierung. Wie werde ich eine Leiche los, wo verläuft die Grenze zwischen Täter und Opfer, wie kriegt man eine Frau rum? In der Erzählung "Die Sache mit dem Schmetterling" etwa schildert Martins eine Begegnung zwischen einem Jungen und einem Schmetterling, der in eine Ölwanne fällt und stirbt. Der Junge hilft nicht, fasziniert beobachtet er diesen langsamenTod. 13 Geschichten, im Slang der Straße erzählt, fulminant gefeiert in Brasilien.

Von: Eva Demmelhuber

Stand: 06.09.2019

Polizeieinsatz in einer Favelas von Rio de Janeiro | Bild: picture-alliance/dpa

Leben und Überleben in brasilianischen Favelas

Geovani Martins im Gespräch

Geovani Martins

"In dem Buch versuche ich, irgendwie wiederzugeben, wie ich, wie die Leute meines Umfeldes die Polizei wahrnehmen, das, was sie Drogenkrieg nennen, die Massenverhaftungen. Das sind alles Werkzeuge, um ein rassistisches und mörderisches System aufrechtzuerhalten. Es ist schon sehr merkwürdig zu glauben, dass es in Brasilien Leute gibt, die keine Angst vor der Polizei haben, während alle Leute, die ich kenne, eine Sterbensangst vor den Polizisten haben."

Die Straßen markieren die Grenzlinien in den Favelas. Oben am Hügel wohnen die Armen, Ausgegrenzten in einem Gassengewirr mit hunderten Treppen und Trampelpfaden, unten die Etablierteren, Wohlhabenden, Einflussreichen in einem wohl angeordneten Straßennetz, geteert und vielleicht sogar ohne Müll, die "Asfaltos". Ein Leben auf Asphalt, geordnet und behütet, eine Welt, die für die Protagonisten in Geovani Martins' Erzählungen unerreichbar ist. Im Slang der Alltagssprache, einfühlsam beschreibt er die Lebenssituation aus der Ich-Perspektive junger Favelabewohner, die oft ungewollt in die Spirale der Gewalt und Brutalität geraten. "Alles ist sehr nah und gleichzeitig weit weg. Und je älter wir werden, desto höher werden die Mauern", heißt es in einer der 13 Geschichten des 29-jährigen Autors. Sehr direkt und packend geschrieben, im Slang der Straße und voller Poesie zugleich.

"Aus dem Schatten"

Straße in einer Favela von Rio de Janeiro mit Graffitis

"Wenn du durch die engen Gassen läufst, zwischen Unmengen von Rohren die Treppen runtersteigst, über offene Abwasserrinnen springst, den Ratten in die Augen guckst, den Kopf einziehst, um Stromleitungen auszuweichen, siehst, wie alte Kindheitsfreunde schwer bewaffnet durch die Gegend laufen, und dann eine Viertelstunde später vor einem Haus stehst, wo die Gitterzäune an den Wegen mit Zierpflanzen geschmückt sind und du zuschaust, wie Jugendliche privaten Tennisunterricht bekommen, kann das ganz schön hart sein. Alles ist sehr nah und gleichzeitig weit weg. Und je älter wir werden, desto höher werden die Mauern."

aus: 'Aus dem Schatten' von Geovani Martins, Suhrkamp Verlag

Brennpunkt Favela, eine verdrängte Wirklichkeit

Geovani Martins

"Alle, mit denen ich geredet habe, Bekannte und Leute, mit denen ich nie zuvor gesprochen hatte, sagten, sie hätten sich voll und ganz mit dem Buch identifiziert, sich in die Erzählungen hineinversetzt, weil Dinge aus ihrem eigenen Leben, der eigenen Kindheit angesprochen wurden. Viele Leuten sagten mir, es wäre das erste Buch ihres Lebens, das sie ganz gelesen hätten."

Millionen Menschen wohnen in den Favelas von Rio de Janeiro. Sie leben mitten in der pulsierenden Stadt, doch am Rande der Gesellschaft. Der 29-jährige Schriftsteller hat den Kindern und Jugendlichen, die es kaum schaffen, aus diesen Armenvierteln herauszukommen, eine Stimme gegeben. Geovani Martins, die neue Stimme einer rebellischen Jugend in Brasilien, lebt in Vidigal, in so einem Gewirr aus Gassen, Mauern und kleinen Häuserwürfeln.

Brasiliens junge literarische Stimme

Geovani Martins, am 18. Juli 1991 in Bangu, in der Westzone von Rio de Janeiro geboren, hat vier Jahre lang die Schule besucht und danach als Plakatträger und Kellner in einem Standzelt für Kinder gearbeitet. "Aus dem Schatten" ist sein Debüt: In Brasilien kam es schnell auf die Bestseller-Listen, Martins wird dort – wie inzwischen auch international – als die Stimme eines Neuen Realismus gefeiert.
Zur Schule ging er nur bis zur achten Klasse, arbeitete dann unter anderem als Kellner und Cafeteria-Angestellter. Er lebte in den Slums von Rocinha und Barreira do Vasco, bevor er nach Vidigal zog. Mit 22 Jahren nahm er an einem literarischen Workshop teil, gab zusammen mit anderen Favela-Bewohnern ein Magazin heraus. Noch bevor sein Debüt, der Erzählband "Aus dem Schatten" ("O Sol na Cabeça") 2018 in Brasilien veröffentlicht wurde, wurde die Kurzgeschichtensammlung schon in neun Länder verkauft, der renommierte Filmemacher Karim Aïnouz, der in der Jury zur Vergabe des Oscars sitzt, soll die Filmrechte gekauft haben.

Autoren-Gespräch und Lesung mit Shenja Lacher

Schauspieler Shenja Lacher vor dem Bayern2-Studio

Aus Rio de Janeiro, aus dem Armenviertel Vidigal, ist der gefeierte Jungstar aus Brasilien zugeschaltet. Er erzählt über das Leben in Rio, über die Militär-Polizei, sein Schreiben und der Gewalt in Brasilien. Der gefeierte Schauspieler Shenja Lacher liest aus den Erzählungen "Das Graffiti" und "Die Sprale", zwei von 13 Geschichten „Aus dem Schatten“, dem Erzählband, der in der Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner bei Suhrkamp erschienen ist.

Moderation und Redaktion: Cornelia Zetzsche

radioTexte - Das offene Buch, jeden Sonntag um 12.30 Uhr auf Bayern 2


8