Bayern 2 - radioTexte


118

Im Schatten der Oktoberrevolution 1917 Gaito Gasdanow: "Ein Abend bei Claire"

Autobiografisch gefärbt ist Gaito Gasdanows Meisterwerk, das ihn über Nacht berühmt machte. Er meldet sich wie sein Held Kolja freiwillig zur "Weißen Armee", erlebt die grausamen Auswüchse der Revolution, den russischen Terror. Er fährt auf einem Panzerzug durch Russland, an Bäumen vorbei, an denen Ermordete hängen. Als der Kampf gegen die Bolschewisten verloren ist, flieht Gasdanow über die Türkei nach Bulgarien. 1923 kommt er nach Paris, wo sich viele russische Exilanten zusammenfinden. Im Roman kämpft sich auch Kolja nach Paris durch, wo er "seine" Claire eines Tages wieder trifft.

Von: Eva Demmelhuber

Stand: 27.10.2017 | Archiv

Gaito Gasdanow | Bild: Gesellschaft der Freunde Gaito Gazdaanowa

Gaito Gasdanow - "Der russische Camus", ein Autor, der süchtig macht

Wer diesen hinreißenden Roman liest, merkt bald, dass aus dem einen Abend bei Claire eine lange Nacht mit Gaito Gasdanow wird. Er ist so süffig geschrieben, dass man das Buch nicht mehr weglegt, bis zum Ende. Und dann wünscht man sich, nie auf der letzten Seite angekommen zu sein.

Petersburg um 1900

Man geht wie durch eine Gemäldegalerie, über Straßen von St. Petersburg und Paris vor und nach dem ersten Weltkrieg, dem russischen Bürgerkrieg, reist durch russische Landschaften und taucht ein in den Kosmos des mit einem zarten Schmelz behafteten Protagonisten Kolja, der sich durchs Leben tastet, das unbegreifliche Leben, schmerzlich und schön. Ein Zoom von der Innenwelt auf die Außenwelt, von den Geschehnissen in die Gedankenwelt.
Eine melancholisch traurige Liebesgeschichte zwischen Traum und Wirklichkeit, die Geschichte eines Emigranten auf seiner Flucht von Petersburg nach Paris, immer mit dem sehnsüchtigen Traum von der bezaubernden Claire, seiner großen unerfüllten Liebe.

Von St. Petersburg über Umwege nach Paris

Familie Gasdanow | Bild: Gesellschaft der Freunde Gaito Gazdanowa

Die Gasdanows, rechts vorner Gaito mit Buch

Georgi Iwanowitsch Gasdanow wurde am 6. Dezember 1903 in Sankt Petersburg geboren, kurz vor der ersten russischen Revolution im Januar 1905, die mit dem Blutsonntag ihren grausamen Höhepunkt hatte, an dem friedlich demonstrierende Arbeiter von Soldaten des Zaren vor dem Winterpalast niedergeschossen wurden. Unruhige Zeiten also.
Weil sein Vater staatlicher Forstbeamter war und des öfteren versetzt wurde, zog die Familie häufig um. Als Gaito vier war, siedelte die Familie über nach Sibirien in die Nähe von Twer, dann in den Nordkaukasus, später in die Ukraine nach Charkow und nach Poltawa, wo Gaito eine Kadettenschule besuchte. 1911 starb sein Vater, kurz darauf verlor Gaito auch seine beiden Schwestern.

Fünf Jahre Bürgerkrieg und acht Millionen Tote

Gaito Gasdanow | Bild: Gesellschaft der Freunde Gaito Gazdanowa

1923 als russischer Emigrant in Paris

1919 meldet sich Gaito freiwillig zur Weißen Armee, erlebt die grausamen Auswüchse der Revolution, den russischen Terror. Als einfacher Soldat fährt er auf einem Panzerzug durch Russland, an Bäumen vorbei, an denen Ermordete hängen. Als der Kampf gegen die Bolschewisten verloren ist, flieht Gaito Gasdanow über die Türkei nach Bulgarien, wo er in der Stadt Schumen an einem eigens für russische Flüchtlinge eingerichteten Gymnasium das Abitur machen kann.
1923 kommt er nach Paris, wo er sich mit Gelegenheitsjobs durchbringt. Er schruppt Lokomotiven, belädt Frachter, fährt nachts Taxi. Wenn Zeit ist, hört er an der Sorbonne Vorlesungen in Literaturgeschichte, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften. Er fängt an zu schreiben, arbeitet für mehrere russische Exil-Zeitungen und -Zeitschriften. Nach dem Einmarsch Deutschlands schließt sich Gaito Gasdanow 1940 der Resistance an, rettet mit seiner Frau Fajna jüdische Kinder vor den Nazis. Sein Debütroman "Ein Abend bei Claire" erscheint 1929, 1941 "Nächtliche Wege", 1948 "Das Phantom des Alexander Wolf".

Von Paris nach München

Das Münchner Studio von "Radio Liberty"

Nach dem Krieg schreibt Gaito Gasdanow für Zeitungen und berichtet ab 1952 unter dem Pseudonym Georgi Tscherkassow für das russischsprachige Programm des vom amerikanischen CIA finanzierten Senders "Radio Liberty" über das kulturelle Leben in Paris. Über Kurzwelle kann man das Programm bis zum Ural empfangen. 1953 kommt Gasdanow als Redaktionsleiter nach München. Er kümmert sich vor allem um das kulturelle Programm. Seine Sendungen heißen zum Beispiel "Tagebuch eines Schriftstellers" oder "In der Welt der Bücher", die er mit Lesungen und literarischen Feuilletons bestückt.

Dass er Romane geschrieben hat und bei den Exilrussen ein berühmter Autor war, wusste hier in München niemand. Nach einem kurzen Ausflug nach Paris kehrt Gasdanow 1964 wieder in die Isarmetropole zurück, wo er bis zu seinem Tod, er stirbt am 5. Dezember 1971 an Lungenkrebs, unter seinem Pseudonym für Radio Liberty arbeitet. Heimisch hat er sich auch in München nie gefühlt. Begraben wird der große Schriftsteller auf dem russischen Friedhof von Sainte-Geneviève-des-Bois, 25 km südlich von Paris.

Gaito Gasdanow "Ein Abend bei Claire" in zwei Folgen

Schauspieler Nico Holonics

Der großartige, hinreissende und berührende Roman eines der bedeutendsten russischen Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erschien erst 85 Jahre nach seiner Veröffentlichung auf Deutsch. "Ein Abend bei Claire" wurde für Hanser von Rosemarie Tietze übersetzt.
Für radioTexte - Das offene Buch liest der Schauspieler Nico Holonics, der von den Münchner Kammerspielen über das Schauspielhaus Frankfurt jetzt fest zum Berliner Ensemble gehört, Ausschnitte aus "Ein Abend bei Claire". Am Sonntag, dem 5. und 12. November, jeweils um 11 Uhr auf Bayern 2. Moderation, Redaktion und Regie: Cornelia Zetzsche


118