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Sei Shōnagon Das Kopfkissenbuch einer japanischen Hofdame

Was notierte sich wohl eine Dame des japanischen Kaiserhofs vor über 1000 Jahren in ihr Tagebuch? Im Manesse Verlag ist dieses Jahr ein Schatz der japanischen Literatur erschienen, erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt: Das "Kopfkissenbuch" von Sei Shōnagon ist eines der frühesten und zugleich bedeutendsten Prosawerke der japanischen Literatur. Lesung mit Eva Gosciejewicz sowie ein Gespräch mit Manesse-Verleger Horst Lauinger

Von: Kirsten Böttcher

Stand: 04.10.2021 | Archiv

Junge Frau, das ‘"Kopfkissenbuch’" lesend”, von Hokusai, um 1822. (Wurde als Neujahrsgeschenk gedruckt). Farbholzschnitt, Surimono-Format, 21,3 × 18,6 cm.  | Bild: picture-alliance/dpa/akg images

"Frauen, die sich ohne weitere Ambitionen mit ihrem kleinen, häuslichen Eheglück zufriedengeben, halte ich für kurzsichtig und töricht."

(Sei Shōnagon)

Es ist eine Welt, die uns fremder nicht sein könnte, eine sagenhafte Hochkultur, die vor über 1000 Jahren ihren Anfang nahm - Japans "goldene" Heian-Zeit. In dieser Ära, genauer: im Jahr 794, wurde der Kaiserpalast nach Heian-kyō, dem heutigen Kyōto, verlegt. Dorthin wurde Sei Shōnagon (ca. 966 - ca. 1025) um das Jahr 1000 als Hofdame in den Dienst der Kaisern Sadako berufen. Sowohl die Kaiserin als auch der Kaiser müssen sehr angetan von ihr gewesen sein: Sei Shōnagon galt als klug, schlagfertig und als eine ausnehmend unterhaltsame Gesellschafterin, die in poetischen Wettkämpfen am Hof durchaus mit den anwesenden Herren mithalten konnte. Eines Tages wurde ihr vom Kaiser eine große Ehre erwiesen: Er schenkte ihr Papierbögen. So konnte sie ihre Erinnerungen und tagesaktuellen Gedanken festhalten, mit denen sie tatsächlich japanische Weltliteratur begründete.

"In diesem Buch habe ich all das, was ich gesehen oder empfunden habe, niedergeschrieben, und zwar in den Mußestunden zu Hause, denn andernfalls hätte ich damit rechnen müssen, dass es womöglich Fremde zu Gesicht bekämen. Es mag hier und da vorkommen, dass ich mir Ausdrucksweisen geleistet habe, die bedauerlicherweise irgendjemanden vor den Kopf stoßen könnten."

Sei Shōnagon

Trotz der für uns heute so fremden Kultur, des komplexen Hofzeremoniells, des tausendjährigen Abstands: Die freimütigen Schilderungen der jungen Frau überwinden Zeit und Raum. Sei Shōnagon schreibt in ihrem "Kopfkissenbuch" (im Original: Makura no Sōshi) direkt und ehrlich über die Schönheit von Schnee und Mondenschein, macht sich über die Marotten der Männer lustig, fertigt Listen an, was sie "unausstehlich" oder peinlich findet, was sie stolz macht oder über was sie sich freut.

"Mehr als angemessen freue ich mich, wenn ich einen Anfangs- oder Endvers, den mir eine gebildete Person vorgibt, ohne zu zögern ergänzen kann. Schließlich kommt es häufig vor, dass mir Verse, die ich eigentlich gut kenne, ausgerechnet dann nicht einfallen wollen, wenn mich jemand auf die Probe stellt."

Sei Shōnagon

Heian-Zeit: Anfänge der japanischen Prosa

Sei Shōnagon stammte aus einer literarisch und wissenschaftlich hochbegabten Familie niederen Adels – ihr Vater war ein bekannter Dichter. Ihre Bildung und ihre Klugheit trugen dazu bei, dass sie zu einer Ausnahmeerscheinung werden konnte. Dass eine Frau ihre Gedanken mit solch erstaunlicher Individualität, Scharfsinn, solcher Unbefangen und diesem Selbstbewusstsein zu Papier brachte, besaß zu der Zeit nicht nur in Japan Seltenheitswert. Im europäischen Mittelalter wäre dies, so kommentiert Horst Lauinger (Leiter des Manesse Verlags) im Gespräch mit Antonio Pellegrino, gar nicht denkbar gewesen.

Ob Sei Shōnagon vom prachtvollen Schwertlilienfest erzählt, vom Ausrücken der Kaiserlichen Gewittergarde oder von klammheimlichen Tête-à-Têtes – dank ihres agilen Stils gelingt es dieser besonderen Hofdame spielend, den zeitlichen Abgrund von der Heian-Zeit bis heute zu überwinden.

Als die Kaiserin mit nur 24 Jahren stirbt, gerät ihre Hofdame nach zehnjährigem Dienst ins gesellschaftliche Abseits. Was aus ihr geworden ist, weiß niemand. Immerhin: Man kann bis heute Sei Shōnagon durch ihr "Kopfkissenbuch" kennenlernen.

Sei Shōnagons "Kopfkissenbuch"

am 10. Dezember in den radioTexten am Dienstag um kurz nach 21.00 Uhr auf Bayern2

Die Schauspielerin Eva Gosciejewicz in den radioTexten am Dienstag (Foto: switch studio Berlin)

Lesung mit Eva Gosciejewicz

sowie ein Gespräch mit Horst Lauinger (Leiter des Manesse Verlags)

Moderation und Redaktion: Antonio Pellegrino

Das "Kopfkissenbuch", erstmals vollständig aus dem Japanischen übersetzt, ausführlich kommentiert und neu herausgegeben von Michael Stein, ist im Manesse Verlag erschienen.

Unsere Lesungen können Sie nachhören: auf dieser Seite im Stream, als Download im Podcast-Center des Bayerischen Rundfunks und überall, wo es Podcasts gibt.


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