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Texte aus dem Gefängnis Die "Zaubermacht" von Ahmet Altan

Nach achttägiger überraschender Freilassung ist er am 12. November wieder verhaftet worden: der türkische Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan. Für seinen poetischen Gefängnisbericht "Ich werde die Welt nie wiedersehen" erhält der 69-jährige Autor den diesjährigen Geschwister-Scholl-Preis. Bijan Zamani liest aus Altans Texten aus dem Gefängnis.

Von: Kirsten Böttcher

Stand: 14.11.2019 | Archiv

Der türkische Autor lächelt zuversichtlich den Betrachter an | Bild: dpa

"Bis heute bin ich noch nie im Gefängnis erwacht - nicht ein einziges Mal. (...) Wenn der Herbstregen eingesetzt hat und wütende, gegen unser vergittertes Fenster schlagende Nordwinde mich aufwecken, beginne ich den Tag in einem Hotel am Ufer der Donau... Und wenn ich im Winter bei meinem Erwachen das Flüstern des in den Gittern angesammelten Schnees vernehme, wähne ich mich hinter der Glasfront der Datscha, in der Doktor Schiwago Zuflucht fand."

(Ahmet Altan)

Acht Tage nach seiner Freilassung ist Ahmet Altan am 12. November erneut verhaftet worden - es bestehe angeblich Fluchtgefahr. Nach mehr als drei Jahren im Gefängnis hatte ein türkisches Gericht den 69-jährigen Journalisten am 4. November unter Auflagen freigelassen. Außerdem hatten die Richter das Strafmaß reduziert: Ursprünglich lautete das Urteil auf lebenslange Haft wegen Unterstützung einer feindlichen Terrororganisation; stattdessen verurteilten sie Altan zu zehn Jahren und sechs Monaten Gefängnisstrafe.

"In Untersuchungshaft genommen hatte man uns mit der Beschuldigung, eine 'unterschwellige Botschaft' verbreitet zu haben. Doch unser Vergehen hatte sich plötzlich geändert: Dem Gericht zugeführt wurden wir mit der Beschuldigung, 'am Putsch teilgenommen zu haben'. Am Beginn der Verhandlung fragten wir den Richter:
Was ist aus der Beschuldigung der Verbreitung einer unterschwelligen Botschaft geworden, mit der wir in Untersuchungshaft gesteckt wurden?
Die mit einem ironischen Lächeln erfolgte Antwort des Richters verdient es, in die Geschichtsschreibung der Jurisprudenz einzugehen: Unsere Staatsanwälte lieben es, Wörter anzubringen, die sie nicht verstehen."

(Aus: Ich werde die Welt nie wiedersehen. Von Ahmet Altan)

Er war schon immer bekannt dafür, dass er offen sagt, was er denkt. Dass er auch über Tabuthemen, wie die Diskriminierung der Kurden oder den Völkermord an den Armeniern, spricht. Dafür stand er schon mehrfach vor Gericht. Der 1950 in Ankara geborene Altan ist nicht nur einer der wichtigsten, mutigsten Journalisten der Türkei, sondern auch ein erfolgreicher Schriftsteller, dessen Romane und Essays in Millionenauflagen erschienen sind.

Putsch in der Türkei

Aber seit dem Putschversuch im Juli 2016 hat sich sein Heimatland verändert: Am Vorabend des Putschversuchs hatten Altan und die Journalistin Nazli Ilicak in einer Fernsehsendung die türkische Regierung kritisiert. Bei seiner Verhaftung am 23. September wurde ihm dann vorgeworfen, "unterschwellige Botschaften" über den Putschversuch verbreitet zu haben. Damals war er als Chefredakteur der inzwischen eingestellten Zeitung "Taraf" tätig gewesen.

"Die Gedankenfreiheit existiert nicht mehr. Wir bewegen uns mit großer Geschwindigkeit von einem Rechtsstaat zu einem Terrorregime. Ich bin voller Wut und äußere meine schärfste Kritik an der Festnahme des Schriftstellers Ahmet Altan, einer der wichtigsten Federn des türkischen Journalismus, und seines Bruders Mehmet Altan, einem renommierten Akademiker und Ökonomen."

Kommentar des Nobelpreisträgers für Literatur Orhan Pamuk, in einem Artikel in La Repubblica, 10. September 2016)

Zwischen Schizophrenie und Autorschaft

Im September 2018 erschien in Deutschland sein Buch "Ich werde die Welt nie wieder sehen. Texte aus dem Gefängnis": eine ergreifende Sammlung persönlicher, fast philosophischer Texte, in denen Altan über Freiheit, sein Leben im Gefängnis und die politische Situation in der Türkei schreibt, so dass man sich vage vorstellen kann, wie es ihm in jahrelanger Haft ergeht. Zugleich ist sein Buch, das Schreiben, die schärfste Waffe gegen den Wahnsinn, gegen die Ungerechtigkeit und das Eingesperrtsein. Um sein Innerstes zu schützen, geht Altan auf fantastische Reisen jenseits der Zellengrenzen: "Ich vergnüge mich damit, wie auf einer Schaukel zwischen Schizophrenie und Autorschaft hin- und herzuschwingen", so Altan.

"Ich schreibe diese Zeilen in einer Gefängniszelle. Aber ich bin nicht gefangen. Ich bin Schriftsteller. Ich bin weder dort, wo ich bin, noch dort, wo ich nicht bin. Ihr könnt mich ins Gefängnis stecken. Doch ihr könnt mich dort nicht festhalten. Weil ich die Zaubermacht besitze, die allen Schriftstellern eigen ist. Ich kann mühelos durch Wände gehen."

(Ahmet Altan)

Für sein Buch "Ich werde die Welt nie wiedersehen" wurde Ahmet Altan in diesem Jahr mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet, dessen Verleihung am 25. November wohl ohne den Preisträger stattfinden muss. "Ahmet Altans Texte zeigen auf eine ruhige, klare Weise, wie es im Augenblick um die Türkei bestellt ist", so schrieb die Jury in ihrer Begründung.

Ahmet Altan in aller Kürze

Ahmet Altan, geboren 1950, ist mit seinen Romanen und Essaybänden in Millionenauflage einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Türkei. Und einer der bekanntesten Journalisten des Landes. Seine kritische Berichterstattung brachte ihn immer wieder in Konflikt mit der Regierung. Ahmet Altan arbeitete als Kolumnist für zahlreiche namhafte türkische Medien und gründete 2007 die Zeitung ›Taraf‹. Sie wurde nach dem vereitelten Putschversuch vom 15. Juli 2016 verboten, Ahmet Altan zusammen mit seinem Bruder Mehmet Altan festgenommen.

Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk

Nach der Festnahme der Altan-Brüder und weiterer türkischer Journalisten und Schriftsteller protestierten bekannte Autoren, Künstler und Verleger in einem offenen Brief gegen die »Vendetta gegen die klügsten Denker und Autoren des Landes«. Zu den Unterzeichnern gehörten u.a. die Nobelpreisträger Orhan Pamuk, Herta Müller und J.M. Coetzee sowie die Autoren Elena Ferrante, Roberto Saviano und Günter Wallraff. Am 16. Februar 2018 wurde Altan zu lebenslanger Haft verurteilt. 2019 wird Ahmet Altan mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. 

Ahmet Altan: Texte aus dem Gefängnis

Aus dem Buch "Ich werde die Welt nie wiedersehen" liest Bijan Zamani Auszüge in den radioTexten, am Dienstag, 19. November um kurz nach 21 Uhr auf Bayern2.
Moderation: Antonio Pellegrino
Das Buch ist in der Übersetzung von Ute Birgi-Knellessen bei S. Fischer erschienen.

Unsere Lesungen können Sie nachhören: auf dieser Seite im Stream, als Download im Podcast-Center des Bayerischen Rundfunks und überall, wo es Podcasts gibt.


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