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Vom 80er-Pop zur Kammermusik Der wundersame Wandel von Talk Talk

Sie begannen als Verschnitt der Glampopper Duran Duran und endeten in den frühen 90ern als eine Art Kammermusik-Ensemble, fernab der Pop-Charts, geliebt von der Kritik und einflussreichen Bands wie Radiohead, Sigur Ros und Portishead. Mitte April erscheinen ihre Alben wieder.

Von: Ralf Summer

Stand: 20.04.2012 | Archiv

Cover der Platte "The Collection" | Bild: Talk Talk/ Disky

Diese erstaunliche Band-Geschichte beginnt Anfang der 80er mit Bruderhilfe: Ed Hollis, seines Zeichens Musikmanager, hilft seinem jüngeren Bruder Mark, eine Band zusammenzustellen, um Demo-Aufnahmen zu machen. Bereits nach einer Woche realisieren Mark und Ed Hollis, der in den 70ern die Pub-Rock-Band Eddie & The Hot Rods managte, dass die eingeladenen Musiker blendend zusammenspielen. 1981 geben sie dann die ersten Konzerte: Mark Hollis - Gitarre und Gesang, Paul Webb - Bass, Leo Harris - Drums und Simon Brenner - Keyboards - und nennen sich Talk Talk (ein Stück ihrer ersten Platte trägt diesen Titel).

Cover der Debüt-Platte "The Party's over"

Nach zwei Radioshows bei der BBC werden sie entdeckt: Von Jimmy Miller, dem Produzenten der Rolling Stones und Primal Scream. Miller überarbeitet die Demos von Talk Talk und spielt sie verschiedenen Labels vor. Ende 1981 schlägt die EMI zu, verpflichtet Roxy Music-Produzent Colin Thurston für die Aufnahmen und bringt im Sommer 1982 das Debüt von Talk Talk aus. Passenderweise trägt der Erstling den Titel "The Party's Over" und verkauft sich weltweit über eine Viertelmillion mal.

Neben stürmenden Charts-Nummern wie "Talk Talk" und "Today", die ihnen auch Radiohits in den USA und Auftritte mit Elvis Costello und Genesis einbringen, ist auch schon eine gewisse Weltabgewandtheit in den Kompositionen von Mark Hollis herauszuhören. Zu Beginn ihrer nur zehnjährigen Karriere ist aber noch nicht klar, dass sich Talk Talk immer mehr vom klassischen Pop-Song-Format abwenden und in langen, ausgefuchst-sperrigen Arrangements, kurz vor Neuer Musik, enden werden. Bereits nach einem Jahr in der Pop-Tretmühle - nach dem ersten Album - beschließen Mark Hollis und seine Gruppe abzutauchen - zunächst ins Studio.

Während der Aufnahmen zum zweiten Album, das 1984 erscheint, steigt Keyboarder Simon Brenner aus - für ihn wechselt der neue Produzent Tim Friese-Greene an die Tasten. Talk Talk bekommen durch ihn nicht nur einen erfahrenen Soundtüftler - Friese-Greene produzierte davor den Elektronik-Zauberer Thomas Dolby und auch den Nummer-1-Song "The Lion Sleeps Tonight" der Eurovisions-Band Tight Fit. Der neue Keyboarder schreibt auch gleich mit dem Talk Talk-Kopf Hollis weitere Hits - z.B. "Dum Dum Girl". Die zweite LP "It's My Life" sollte der erste musikalische Meilenstein in der Talk Talk-Historie werden. Und verkauft schon über eine Million Expemplare.

Auch das wohl beliebteste Stück Talk Talks ist auf dem Zweitling: "Such A Shame" - das auf zig 80er-Kompilationen landet und hierzulande auch auf den Soundtrack der Verfilmung von Rocko Schamonis Buchs "Dorfpunks". Der Song ist vom Buch "The Dice Man" - im Deutschen: "Der Würfler" beeinflusst. Der Roman von 1971 erzählt von einem Psychologen, der -gelangweilt von seinem Leben als Familienvater und Therapeut - alle Entscheidungen dem Würfel überlässt. Im Laufe der Zeit entdeckt der Psychologe dann, dass er mittels des Würfels seine diversen multiplen Persönlichkeiten entdecken und ausleben kann. "The Dice Man" beeinflusste auch andere Künstler wie Quentin Tarantino oder Mark E. Smith von The Fall, der einen Song so nannte - Aphex Twin veröffentlichte sogar als The Dice Man. Dank dem Hit "Such A Shame", der seine größten Erfolge im deutschsprachigen Raum feiern kann - Nummer 1 in der Schweiz, Nummer 2 in Österreich und in Deutschland - wird das zweite Talk Talk-Album "It's My Life" in allen Ländern Europas vergoldet, nur zuhause in England nicht. Der Depeche Mode-Effekt.

Aber "It's My Life" landet auch in den Top 40 der amerikanischen Billboard-Charts. Doch Talk Talk kehren sich allmählich von den Pop-Trends der Zeit ab: Die Mitte der 80er vorherrschenden Synthies werden abgekabelt, Produzent und Keyboarder Tim Friese-Greene hängt seine Arbeit für andere Bands an den Nagel und lädt nun lieber Orchester und  Chöre ein, die sich die Band nun auch leisten kann. Bei den Aufnahmen zum dritten Album "Colour Of Spring" wird klar, dass künftig nur noch klassische Instrumente das Klangbild von Talk Talk dominieren - der alte Vergleich mit den Duran- Duran-Anklängen soll endgültig der Vergangenheit angehören. "The Colour Of Spring" landet erstmals in den englischen Top 10 und verkauft auch wieder eine Million Einheiten weltweit.

Das Plattencover von "The Colour Of Spring" ist übersät mit Schmetterlingen in lebhaften Frühlingsfarben und wird wie alle Talk Talk-LP-Hüllen vom englischen Grafiker James Marsh gestaltet, der eine regelrechte Corporate Identity für die Band entwickelt. "The Colour Of Spring", das dritte Album von 1986, ist das zentrale Werk der Briten: Es präsentiert die Sounds, für die die Band heute noch in Erinnerung ist: Elegischer, wohltemperierter, zeitloser Pop - man höre nur "Happiness Is Easy". Es sollte jedoch ihre letzte Platte sein, die noch vom Massengeschmack mitgetragen und in großen Mengen gekauft wird. Die Platte klingt ausgefuchster als ihre Vorgänger: In den Arrangements stecken Kinderchöre, Akustik-Gitarren, Saxophonsprengsel, und Stevie Winwood taucht als Organist auf - das Werk gilt noch heute als positive Beispiel für "Edel-Pop". Der Welterfolg der Platte verhilft der Band zu einer Art Studiofreibrief, von dem Talk Talk von nun an reichlich Gebrauch machen sollten. Ihre erste Ansage an die EMI ist: Es wird keine Singles mehr von uns geben!

Ein weiterer Höhepunkt der Platte ist "Living In Another World", der Song mit der Textzeile "Help me find a way out of from this haze, but only angels look before they tread" - "hilf mir einen Weg aus dem Labyrinth zu finden, doch nur Engel kucken genau hin, wohin sie treten". Mit dieser ersten introvertierten Platte werden Talk Talk zum Montreux Jazz Festival in die Schweiz eingeladen - der Mitschnitt wird später auf DVD veröffentlicht.

1988 legen die vier Briten dann zum letzten Mal ein Album im Zwei-Jahres-Takt vor: "Spirit Of Eden". Es ist auf der Empfindsamkeits-Skala nochmal ein Stück weiter oben angesiedelt als "The Colour Of Spring". Talk Talk wenden sich endgültig vom puren Pop ab, der sich inzwischen für laute, schrille Genres wie Techno, Grunge und HipHop öffnet. Talk Talk dagegen verweigern sich und öffnen sich dafür der Vergangenheit. Eine bewusste Entscheidung, wie Mark Hollis seiner erstaunten Plattenfirma erklärt:

"Für diese Platte haben wir wie ein kleines Orchester gearbeitet, ähnlich wie es Miles Davis und Gil Evans es in den 50ern und 60ern taten. Klassische Musik ist mir und Tim sehr wichtig. Auch Filmmusik aus den 30ern und 40ern, Komponisten wie Delius oder auch Erik Satie."

Mark Hollis

Bekanntestes Stück der Platte sollte "I Believe In You" werden. Das letzte Album als Quartett spielen Talk Talk in Sessions ein, an der auch der als "Punk-Geiger" bekannte Nigel Kennedy teilnimmt. Talk-Talk-Manager Keith Aspden sagt später, sie hätten ihm mit Gafferband die Hände binden müssen, damit er nicht zu virtuos und eingängig fidelt. Auch der Talk Talk-Basser und der Band-Schlagzeuger haben nicht mehr viel zu melden: Die Improvisationen werden später ohne sie zusammengeschnitten - Mark Hollis und Tim Friese-Greene editieren es mit digitalem Equipment im eigenen Studio. Der Mix aus Ambient, Jazz und Klassik verkauft sich erwartungsgemäß nicht mehr so gut - allein in England sinkt der Absatz des Albums auf nur noch 60.000 Stück.

Die Texte auf "Spirit Of Eden" reichen vom Garten Eden - der übrigens im heutigen Aserbeidschan verortet wird - bis hin zur Heroinsucht von Mark Hollis Bruders - angeblich stirbt Ed an der Droge. Talk Talk sehen sich nicht mehr als normale Band, touren nicht mehr, und ihre Plattenfirma EMI überlegt, sie zu verklagen, weil sie sich zunehmend verweigern und der kommerzielle Erfolg ausbleibt. Man einigt sich 1990 auf ein Best-Of-Album, "Natural History", das ein Million Einheiten verkauft. Jedoch verklagen Talk Talk alsdann ihr Label, weil die EMI 1991 ein Remix-Album "History Revisited" rausbringt - ohne Zustimmung der Band. Die Band wechselt zu Polydor. Dort veröffentlichen sie beim berühmten Jazz-Label Verve ihren Schwanengesang: Nachdem Basser Paul Webb die Gruppe verlässt, sollen Talk Talk ein reines Studioprojekt von Hollis und Friese-Greene und "Laughing Stock" ihr letztes Album werden. Mit dem minimalistisch-experimentellen Werk von 1991, das im Nachhinein unter dem Genre "Post Rock" eingeordnet wird, endet die aktive History von Talk Talk.

Cover der Platte "Laughing Stock"

Der renommierte Hamburger Pop-Produzent Tobias Levin, der schon für Bands wie Tocotronic und Kante gearbeitet hat, nennt die "Laughing Stock"-LP von Talk Talk "das Reinheitsgebot solitärer Klangkunst". Bands von heute wie Portishead, Sigur Rós oder Radiohead sehen das rückblickend ähnlich. Nicht jedoch Talk Talks letztes Label Polydor nimmt nach nur zwei Monaten "Laughing Stock" enttäuscht vom Markt. Eine Entscheidung die Platten-Sammler freut, das Vinylalbum wird darauf zur Rarität und mehrere Hundert Euro teuer.

Kritikerpreise heimst ein Post-Talk Talk-Projekt ein, das von Paul Webb, dem Bassisten der Band 2002 aus der Taufe gehoben wird - zusammen mit Portishead-Sängerin Beth Gibbons - an ihrer Seite nennt er sich Rustin' Man. Gemeinsam mit dem Talk-Talk-Drummer Lee Harris hatte Paul Webb sie bereits in den 90ern für das Talk Talk-Nachfolge-Projekt 'O' Rang gebucht - Gibbons sang 1994 und 1997 je ein Stück auf beiden 'O' Rang - Alben. Das Solo-Projekt von Tim Friese-Greene unter dem Namen "Heligoland", musste nach zwei Alben wegen seines Tinnitus-Leidens eingestellt werden. Talk Talk-Chef Mark Hollis tritt 1998 aus seiner Familienzeit ins Licht der Öffentlichkeit zurück - für ein namenloses Solo-Album. Es sollte sein einziger Comeback-Versuch bleiben.

Retrospektiv gelten die letzten Werke der Londoner Gruppe bis heute als wichtiger Einfluss für den instrumentalen Post Rock. Ein langer Weg für Mark Hollis und seinem Londoner Quartett: Vom sogenannten New Romantic-Sound zum hochkomplexen Kammer-Pop. Die Preise von mehreren Hundert Euro pro Original-LP haben nun für die Wiederveröffentlichung aller Platten gesorgt. Mitte April wurden ihre Alben neu aufgelegt. Sowohl im audiophilen Vinyl als auch als CD mit DVD-Bonusmaterial. Auf den Re-Issues gibt es aber keine neuen Songs. Der Song "John Cope" scheint zwar unveröffentlicht, tauchte aber schon auf diversen Compilations auf - er steht für das Pseudonym Mark Hollis'.


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