Neuerscheinungen der Woche Neue Alben von Altin Gün, boygenius und London Brew
Die Neuheiten der Woche im Überblick. Mit dabei u. a. die neuen Alben von Charlie Cunningham, Deerhoof, Wild Child, The No Ones, The Hold Steady, A Certain Ratio, Altin Gün, Boygenius und London Brew

Altın Gün - Aşk
Ihr fünftes Album sollte eigentlich schon vor drei Wochen erscheinen. Wegen der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien haben Altın Gün allerdings den Release verschoben. Altın Gün sind ja eine niederländisch-türkische Band, die alte anatolische Psych-Musik feiern Bandchef Jasper Verhulst hat bei einer Reise nach Istanbul die anatolische Folkmusik der 60er Jahre entdeckt und mit türkischen Freunden dann die Band gegründet. Das kommt sehr gut an. Sie waren schon für einen Grammy nominiert und sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass türkischer Sound derzeit im Pop so angesagt ist.
Ihrem Stil bleiben sie auch auf ihrem fünften Album treu. Das neue Album heißt Aşk, was aus dem Türkischen übersetzt „Liebe“ bedeutet. Wieder holt das Sextett alte Traditionals ins Hier und Jetzt, sie covern türkische Balladen von Stars wie Asik Veysel oder Selami Sahin. Altın Gün war es wichtig, die Energie ihrer Livekonzerte auch auf Platte zu bannen. Das ist ihnen geglückt. Eben hat noch Frontmann Erdinc gesungen, auf der Platte wechselt er sich – so ist es Tradition bei Altin Gün – mit Sängerin Merve ab. Die Platte ist wieder deutlich gitarrenlastiger und weniger Synthpop. Dadurch sind die Songs auch nicht mehr so tanzbar und eingängig wie etwa noch auf „Yol“. Doch es ist immer ein Genuss, mit Altin Gün auf Zeitreise in die Türkei der 60er Jahre zu gehen. (7,8 von 10 Punkten)
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Altın Gün - Leylim Ley
Charlie Cunningham – Frame
Frame ist eine introspektive Nabelschau. Cunningham sagt selbst, dass dieses Album von all den Widersprüchen in uns Menschen handelt. Auch von seinen eigenen. Seine Botschaft: Liebe die Widersprüche, leugne sie nicht. Aber genau das fehlt in seiner Musik. Dem Album würden Überraschungen und Brüche guttun. Stattdessen ist es dahinplätschernde Gefühlsduselei. Samtweicher melancholischer Säuselgesang, leise Pianobegleitung, sanfte Streicher. Cunningham packt die sensible Brechstange aus. Er will auf Biegen und Brechen für Gänsehaut sorgen. Allerdings stellen die oft belanglosen Songs einem eher die Nackenhaare auf. (4 von 10 Punkten)
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Charlie Cunningham - Shame I Know
Deerhoof – Miracle Level
Das Kontrastprogramm zu Charlie Cunningham. Hier nähern wir uns dem Geschmackskorridor von der ganz anderen Seite. Die Band Deerhoof ist schon immer für schrägen Gitarrensound, ungewöhnliche Melodien und unkonventionelle Songstrukturen bekannt. Diesmal ist vieles neu. Das Album ist nicht mehr so sperrig, sondern manchmal richtig eingängig. Es ist außerdem das erste Album in 28 Jahren, das sie in einem professionellen Tonstudio aufgenommen haben. Sie wollten raus aus der Comfortzone – und mal was Neues ausprobieren: In ein Tonstudio gehen. Naja, was für andere eine Selbstverständlichkeit, ist für Deerhoof ein Experiment. Mit Selbstverständlichkeiten und Normen hatte es die Band ja nie so. Noch eins ist neu: Deerhoof singen zum ersten Mal alles auf Japanisch – der Muttersprache von Sängerin Satomi. Miracle-Level ist ungewöhnlich zugänglich für diese sonst so ungewöhnliche Band. Diese neue Geradlinigkeit und auch Formschönheit verleiht ihrer Musik neue Tiefe. Musikfans, die von früheren Deerhoof-DIY-Platten abgeschreckt waren, sollten ihnen jetzt nochmal eine Chance geben. (8 von 10 Punkten)
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Deerhoof - Phase-Out All Remaining Non-Miracles by 2028 (Official Video)
Wild Child – End Of The World
Wild Child – die Band von Sängerin und Geigerin Kelsey Wilson und ihrem Kollegen Alexander Beggins. Sie kommen aus Austin, Texas. Es war nicht klar, ob es dieses neue Album tatsächlich geben wird. Durch die ersten zwei Pandemie-Jahre hatten Alex und Kelsey sich nämlich aus den Augen verloren. Zum Glück haben sie wieder zueinander gefunden. End Of The World ist schöner Indiepop, gemächlicher Folk oder auch mal rockiger, wie im Titelsong End Of The World. Das neue Album behandelt zwar schwere Themen wie Weltuntergang, Sehnsucht oder üble Trennungen. Aber bei all der Dramatik und trotz des apokalyptischen Titels klingt die Musik positiv und tröstend. (ohne Wertung, da Platte nicht vollständig vorlag)
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End of the World
boygenius – The Record
Lucy Dacus, Julien Baker und Phoebe Bridgers sind gemeinsam boygenius. Die drei schon solo erfolgreichen Songwriterinnen liefern nun endlich auch das Debütalbum als boygenius. In den letzten Jahren haben uns sowohl Phoebe Bridgers, Julien Baker und Lucy Dacus mit ihren Soloalben begeistert. Sie sind dafür verantwortlich, dass so viele junge Frauen die Gitarre zur Hand nehmen. Boygenius sind längst nicht mehr nur tolle Musikerinnen, sondern selbst Role Models und Förderinnen. Inmitten ihrer Solokarrieren fanden sie nun doch die Zeit für ein gemeinsames Album. Die Lieder singt mal Lucy, mal Phoebe, mal Julien, mal abwechselnd oder alle zusammen wie im Dreigesang am Anfang der Platte. Jede der drei Musikerinnen ist deutlich mit ihrer persönlichen Handschrift zu erkennen. An der Stimme, aber auch im Songwriting. Da wären die zarten Weltschmerz-Balladen von Phoebe Bridgers, die opulenten Refrains und countryesken Tunes von Lucy Dacus wie in Strong Enough oder We’re In Love. Oder die rockigeren Parts einer Julien Baker wie Satanist oder $20. Ob eher dezent nur mit Banjo und Gitarre. Ob opulenter mit Schlagzeug und Synthies instrumentiert – alle boygenius-Songs sind ergreifend. Das sind Gänsehautmomente. Es ist auch nicht so, dass Phoebe Bridgers, Lucy Dacus und Julien Baker hier ihre Überbleibsel ihrer Soloplatten zweitverwerten. The Record wird den Erwartungen gerecht. (8 von 10 Punkten)
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boygenius – Not Strong Enough (official music video)
London Brew – London Brew
Es ist erst ein paar Wochen her, als ich „Bitches Brew“ von Miles Davis wieder gehört habe. 1970 erschienen. Immer wieder begeisternd, wie progressiv Miles Davis Jazz und Rock verwoben hat. Das experimentelle Bitches Brew war wegweisend für den sogenannten Fusion-Sound. 2020 – zum 50. Jubiläum der Platte trafen sich 12 britische Jazzgrößen zu einer dreitägigen Aufnahmesession. Eigentlich sollte es ein Konzertabend werden, aber dann funkte die Pandemie dazwischen. Also traf sich die Creme de la Creme der Londoner Avantgarde-Jazzszene. In Anlehnung an Bitches Brew nannten sie sich London Brew. Dazu gehören: Theon Cross, Nubya Garcia, Shabaka Hutchings von der Gruppe Comet Is Coming, Tom Skinner und viele mehr. Die Session fand in den Londoner The Church Studios statt. Ein Songtitel vereint vieles, wofür dieses Album steht: „Miles Chases New Voodoo In The Church“. In diesem Song trifft laut der Tenorsaxofonistin Nubya Garcia also der Sound von Miles Davis in The Church auf den Voodoo Sound eines Jim Hendrix. London Brew ist ein ganz wunderbares Sessionalbum. Wie Bitches Brew ist auch London Brew nun ein Dokument seiner Zeit geworden. Es wurde während der Pandemie aufgenommen und spiegelt die Melancholie und Verunsicherung jener Zeit wider, aber auch der Molloch London und der Drang zum künstlerischen Ausdruck inmitten all der Lockdowns und Isolation – all das ist hörbar. Saxofonist Shabaka Hutchings sagt dazu: „Bei Bitches Brew war es damals ein Haufen Musiker, die sich getroffen haben, um mit Miles Davis Musik zu machen, einfach nur, weil sie es liebten Musik zu machen. Dadurch entsteht eine soziale Kraft“. Inmitten der frei improvisierenden Musiker entstand diese Einheit auch 50 Jahre später in London. Das hört man. Allein im 23-minütigen Eröffnungsstück. Eine beeindruckende Platte und Würdigung. Miles Davis ist im Rückspiegel gut zu sehen – aber ganz in seinem Sinne geht die Musik nach vorne. (8,5 von 10 Punkten)
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![London Brew - Raven Flies Low [Single Edit] (Official Audio) | Bild: Concord Records (via YouTube) London Brew - Raven Flies Low [Single Edit] (Official Audio) | Bild: Concord Records (via YouTube)](/radio/bayern2/sendungen/nachtmix/youtube-import-image-20526~_v-img__16__9__l_-1dc0e8f74459dd04c91a0d45af4972b9069f1135.jpg?version=59f33)
London Brew - Raven Flies Low [Single Edit] (Official Audio)
A Certain Ratio – 1982
Die Band A Certain Ratio wurde in den frühen 80ern im Umfeld von Joy Division und New Order bekannt. New Wave war anfangs auch ihr Sound, bis sie sich dann immer weiter in Richtung Funk und Electronica entwickelten. Morgen erscheint ihr neues Album „1982“. ACR – wie die Band gern abgekürzt wird – sind immer noch umtriebig und liefern eine eklektische Mischung aus New Wave, Afrobeat, Funk, Jazz und Latin. (7 von 10 Punkten)
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A Certain Ratio - Holy Smoke (Official Lyric Video)
The No Ones – My Evil Best Friend
Neben Leuten von The Minus 5, The Baseball Project spielt hier auch ein bekannter Mann wie Peter Buck mit – einst Gitarrist bei R.E.M.
Mit ihrer dritten Songsammlung erinnern The No-Ones an ihre Idole. Es sind Songs über George Harrison, Nick Lowe, Marvin Gaye, Jenny Lewis oder auch über den großen Protestsänger Phil Ochs. Entgegen des Bandnamens The No-Ones sind hier lauter Somebodies am Werk. Denn auf My Evil Best Friend kommen noch jede Menge berühmte Gastmusiker dazu: Ben Gibbard von Death Cab For Cutie. Norman Blake von Teenage Fanclub, Leute von den Bangles oder Camper Van Beethoven. Eine exquisite Auswahl – und am Ende ist es auch eine fuzzy Alternativerockplatte. (7,5 von 10 Punkten)
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The No Ones - KLIV (Official Video)
The Hold Steady – The Price Of Progress
Wir bleiben noch kurz in der Gitarrenabteilung. Nehmen aber jetzt die Bluesrockgitarren vom Ständer. Denn auch The Hold Steady aus New York haben im 20. Bandjahr neue Songs. Die Band steht zu ihrem schmissigen Blues-Indierock. Sänger Craig Finn singt die ganze Platte durch, macht keine Pause. Aber ich hänge an seinen Lippen. Neben ihm sitzt man gern am Tresen und lauscht seinen tollen Geschichten. Bester Beweis: Das auch musikalisch überraschende Understudies. (7,5 von 10 Punkten)
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The Hold Steady - Sideways Skull (Official Music Video)