Neuerscheinungen der Woche Neue Alben von u. a. Lael Neale, Jenny Hval und Bacao Rhythm & Steel Band
Unser wöchentlicher Neuheiten-Check mit Lael Neale, Jenny Hval, Bacao Rhythm & Steel Band, Car Seat Headrest, Stimming, Enji, Eddie Marcon, James Krivchenia, Boldy James & Real Bad Man, Model/Actriz, Die Grenzkontrolle und Angel Bat Dawid.

LAEL NEALE – Altogether Stranger
Wir kennen sie als die Musikerin mit dem zarten Omnichord – dem altmodisch wirkenden Instrument, das wie eine elektronische Zither aussieht. Mit dem man sowohl Melodien spielen als auch Rhythmen zur Begleitung programmieren kann. Benutzten auch schon U2, die Gorillaz und die Eurythmics. Und sie. Die US-Musikerin Lael Neale ist inzwischen vom zurückgezogenen Leben auf einer Farm in Virginia nach Los Angeles gezogen.
„Ich fühlte mich wie ein Außerirdischer, der auf einem dystopischen Planeten landet. Die Platte könnte aus der Perspektive eines Wesens aus einem anderen Reich sein, das die Absonderlichkeiten der Menschheit beobachtet.“
Die Umzugs-Erfahrungen sind also in den Texten und Sounds zu finden. Thematisch geht es auch um Vergleiche bzw. Dualitäten: „Land gegen Stadt, Menschlichkeit gegen Technologie, Isolation gegen Gesellschaft“.
Die neuen Songs sind typisch Lael Neale: entrückend-entzückend, verspult-verspukte Dream-Pop-Stücke. Aber ohne Dream-Pop-Nebel. Sondern hell und klar. Mit dem seltsamen Retro-Futura-Charme des Omnichords. Man muss ihr dankbar sein, dass sie das sanfte Pluckern und Pulsieren des Instruments für die Indie-Szene wiederentdeckt hat. (8,4 von 10 Punkten)
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Lael Neale - The Altogether Stranger (Official Film)
JENNY HVAL – Iris Silver Mist
Und noch immer erscheinen Alben, die sich mit Corona bzw. dem Lockdown beschäftigen. In diesem Fall: mit der Erinnerung an Gerüche. Die norwegische Musikerin, Künstlerin und Autorin Jenny Hval hat ihre neue Platte nach einem Parfüm benannt:
"Man sagt, 'Iris Silver Mist' rieche mehr noch als nach Silber nach Stahl, sei kalt und stechend, zugleich aber sanft und schimmernd – so, als trete man früh an einem nebligen Morgen aus dem Haus, der Körper noch warm vom Schlaf."
(Jenny Hval)
Hval vergleicht Duft mit Klang: „Beide reisen durch die Luft, unverkennbar und doch unsichtbar.“ Es waren Gerüche – z. B. von schwitzenden Menschen bei Konzerten – die Hval während des Lockdowns auf einmal zu vermissen begann. Das verhandelt sie bei der Single „The artist is absent“. Bei den ersten Auftritten zur neuen Platte spielte Geruch auch eine Rolle: Sie stellte Reiskocher auf die Bühne – um Reis zu riechen. Und singt „A rose is a rose is a rose is a cigarette“ – bei der zweiten Single „To be a rose“. Eine sinnliche, berührende und intime Avantgarde-Platte.
Einziges Deutschland-Konzert: 27.5. in Berlin – die Stadt, in der ein Künstler lebte und wirkte, nach dem ein Lied auf dem Album benannt ist: Heiner Müller (gemeint ist der deutschsprachige Dramatiker und Schriftsteller Heiner Müller). (8,2 von 10 Punkten)
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Jenny Hval - Spirit mist [Official Audio]
BACAO RHYTHM & STEEL BAND – Big Crown Vaults Vol. 4
Die achtköpfige Hamburger Steelpan-Band mit neuem Album. Sie wurden bekannt, weil im Oscar-prämierten Kinofilm „Anatomie eines Falls“ – mit Sandra Hüller – ihre Coverversion von 50 Cents „P.I.M.P.“ unaufhörlich lief. Deshalb beginnt die neue Platte von Björn Wagner und seinen Mitmusikern auch mit dem Stück. Inzwischen hat ihr Steel-Drum-Cover des Rap-Hits über 40 Mio. Streams. Da ihre BRSB-Version schon 2008 erschien, glauben viele irrtümlich, dass das das Original sei – und dass es 50 Cent gesampelt habe.
Um das Momentum von „P.I.M.P.“ auszunutzen, bringen sie mit ihrer New Yorker Plattenfirma eine Zusammenstellung von Singles heraus, ergänzt durch Unveröffentlichtes.
U. a. „Nautilus“ (den Breakbeat-Klassiker von Bob James), von Khruangbin, der Sugarhill Gang, Jackson 5 oder der El Michels Affair, ihre Labelkollegen bzw. Labelboss Leon Michels.
Ganz neu ist nur ein Stück: „Kaiso Noir“.
Album Nr. 5 ist eine Platte für den späten und treuen Fan! (8,0 von 10 Punkten)
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Bacao Rhythm & Steel Band - Nautilus
CAR SEAT HEADREST – The Scholars
Seine ersten Songs hat er im Auto der Eltern aufgenommen, weil er da ungestört werkeln konnte. Als Car Seat Headrest machte er erst DIY-Schlafzimmer-Pop, dann verspulten Rock. Und wurde fast so etwas wie eine Alternative für Freunde der Parquet Courts und der Strokes. 2016 schaffte er es mit „Teens of Denial“ in unsere Alben-des-Jahres-Liste. Danach knackte er auch die offiziellen US- und UK-Album-Charts.
Nach fünf Jahren Pause kündigt Will Toledo ein neues Werk von Car Seat Headrest an: beeinflusst von Konzeptalben der 60er und 70er wie „Tommy“ von The Who oder „Ziggy Stardust“ von David Bowie.
Da darf man 11-minütige, spirituelle Stücke erwarten, die „Gethsemane“ heißen und in denen Will vom „Tabernacle“ singt. „Die Songs des Albums erzählen von Studierenden und ihren Dozierenden – sowie deren Erlebnissen – als lose Erzählung über Leben, Tod und Wiedergeburt.“ Die Stücke spielen auf einem fiktiven Campus und zur Vorbereitung auf das neue Semester – pardon: auf die Platte – hat Will auf der Car Seat Headrest Homepage Wissensfragen hochgeladen. Er weist seine neuen Texte verschiedenen Fächern zu.
So wie er zwischen den Genres pendelt. „The Scholars“ heißt die neue Platte von „Rock-Oper“.
Car Seat Headrest sind damit endgültig zur Band gewachsen. (7,9 von 10 Punkten)
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Gethsemane
STIMMING – Friedrich
Der Hamburger Martin Stimming bewegt sich seit 15 Jahren zwischen Deep House und melodischer Electronica – passt also in eine Playlist zwischen Pantha Du Prince, Âme und Ry X. „Friedrich“ ist der zweite Teil einer Trilogie – der Taubenfreund Stimming untersucht darauf Gefühle des Alltags. „Für mich ist der Anblick einer Taube einer dieser Alltagsmomente“, sagt er – „die erst einmal klein und unscheinbar erscheinen – dann aber auf den zweiten Blick unglaublich interessant sind.“
Sein Alltag hat es in sich: vergangene Beziehungen aufarbeiten, Elternschaft und Krankheit verhandeln – der dreifache Vater hatte 2023 Blutkrebs. Durch die neuen instrumentalen Tracks – nur auf zwei Liedern gibt es Vocals – zieht sich Hoffnung und positive Energie. „Die Welt, die Städte können kalt und unnatürlich wirken. Dann siehst du eine Taube, die fliegt – ist das nicht schön?“ fragt er. Die Freude an den kleinen Dingen. Wir sind mit ihm dankbar. (8,3 von 10 Punkten)
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Holz und Silber
ENJI – Sonor
Enji, die Mongolin aus München, die in England sehr viel Zuspruch erfährt. Auf „Sonor“ beschäftigt sich Enkhjargal Erkhembayar – so ihr bürgerlicher Name – mit dem Leben zwischen zwei Welten. Enji kam übers Goethe-Institut Ulan Bator von der Mongolei nach München, studierte hier Jazz-Gesang und Jazz-Pädagogik und veröffentlicht auf dem Label Squama.
Das von der Jazz-not-Jazz-Formation Fazer geführt wird – Fazer-Gitarrist Paul Brändle wirkt auf der neuen Platte auch wieder mit.
Enji verzweifelt nicht am Zerrissensein zwischen alter und neuer Heimat, sondern erlebt das Hin & Her als Bereicherung und Erweiterung ihrer Selbst.
Nahe gehen die beiden Stücke „Neke“ und „Unadag Dugui“: In ihnen erzählt Enji über ihren zurückgenommenen Jazz-Sound Geschichten ihrer mongolischen Kindheit. Enji singt auch mongolisch. In ihrer Familie wurde schon immer gern gesungen. Und auch wir fühlen uns beim Hören so: Enji nimmt uns an der Hand und wir fliegen bzw. schweben ihr hinterher – wie in „Neke“ beschrieben. (7,8 von 10 Punkten)
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Enji – Ulbar (Official Video) [Squama]
EDDIE MARCON – Carpet Of Fallen Leaves
Seit 20 Jahren veröffentlicht das japanische Duo Indie-Folk, sie nennen es Acid-Folk. Eddie Corman und Jules Marcon aus Himeji (im Süden, nahe Kobe) sind nun über ihre Freunde und Förderer von The Notwist bei einem deutschen Label gelandet: bei Morr Musik. Die Berliner führen damit ihre Japan-Folk-Veröffentlichungsserie fort.
Die Gastmusiker der Platte bringen Pedal-Steel-Gitarre, Vibraphon, Flöte und Schlagzeug mit – sodass Carpet Of Fallen Leaves tatsächlich hauchzart wie ein Teppich gefallener Blätter wirkt: melancholisch, intim, weit, z. T. psychedelisch-entrückt. Eine Platte, die wie freundliche Katzen schnurrt – wie sie auf dem Cover zu sehen sind. Japan rückt wieder ein Stück näher. Arigato – Markus, Micha (Acher) und Thomas (Morr)! (7,7 von 10 Punkten)
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交信 / Koshin
JAMES KRIVCHENIA (of Big Thief) – Performing Belief
Ein Indie-Folk-Drummer geht elastisch-elektronisch. Krivchenia, sonst bei den US-Helden von Big Thief, liefert keinen Club-Groove ab, sondern eine eher freie Art des Rhythmus. Performing Belief ist sein viertes Solo-Werk und erscheint auf Planet Mu – dem renommierten UK-Label für avancierte Elektronik, auf dem z. B. Jlin veröffentlicht, die schon Album des Jahres bei uns wurde. Krivchenia hat zwei Bassisten eingeladen – die braucht ein Drummer natürlich, damit es rund wird. Dazu gibt es Samples und Field Recordings: ein besonders resonanter Baumstamm bei einer Wanderung, das Werfen von Steinen in einen unberührten Teich, Stepptanz im Schlamm – diese Sounds verweben sich zum Rhythmus-Korsett.
Manchmal kommt die Platte asiatisch-verspielt daher, die Single Probably Wizards lässt es smart wummern, ohne sich an gewohnten Patterns zu orientieren. Krivchenia sucht das Neue und Unbekannte, versucht festgefahrenen Mustern zu entkommen. Und nennt die meist warm wirkenden Instrumentals „rhythmische Nester“. James Krivchenia weiß genau, wie es klingen soll – er ist ja auch Produzent von Big Thief – und will die Platte auch erstmals live präsentieren: im Juno in New York. (7,6 von 10 Punkten)
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Music News | James Krivchenia of Big Thief Unveils New Album 'Performing Belief'
BOLDY JAMES & REAL BAD MAN – Conversational Pieces
Seit zehn Jahren macht James Clay Jones III Rap – als Boldy James und mit wechselnden Koop-Partnern, u. a. mit Alchemist. Diesmal hat der Rapper aus Detroit wieder mit dem kalifornischen Beatbastler-Kollektiv Real Bad Man aus L.A. ein Album fertiggestellt. Conversational Pieces ist bereits sein fünftes Album in diesem Jahr – monatlich haut Boldy James also eine Platte raus – unglaublich, dass er so dichte Werke hinbekommt wie das hier.
Zum Vergleich: Allein im vergangenen Jahr gab es „nur“ sechs Alben von ihm. Der Mann hat einen Lauf. Und mit Real Bad Man klingen seine Raps besonders aufgeräumt. Wobei sein zurückhaltender Flow ohnehin sehr relaxt daherkommt. Hörenswert: Triple Platinum mit seinem Blues-Touch, das tiefergelegte (und Elvis-angehauchte) Say Less und die Single Come Back Around feat. Dreamcastmoe.
Ein weiterer Beweis, dass der endgültige Durchbruch von Boldy eigentlich unmittelbar bevorstehen muss. Aber es wäre nicht das erste (und letzte) Mal, dass die Pop-Geschichte ungerecht verläuft. (7,8 von 10 Punkten)
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Class Clown
MODEL/ACTRIZ – Pirouette
Wie beschreibt das New Yorker Quartett seinen Sound selbst? Auf Bandcamp tun sie es: „ExperimentalBrooklyn – NoWave – IndieDance – IndustrialNoise – PostPunk“. Liest sich gut, klingt noch besser. Pirouette ist das zweite, vielversprechende Album von Model/Actriz – erinnert an eine Mischung aus dem LCD Soundsystem und den magischen Suuns aus Kanada. Percussive Gitarren, besessener Gesang, druckvoller Bass von unten, extrem schiebende Drums.
Ab Ende Juni beehren sie auch unsere Bühnen: Cole Haden und seine Band spielen in Köln, Berlin, München und Wiesbaden. Ein zwingender Sound und eine Band, die man unbedingt live erleben will. Ob sie wie eine Walze über uns hinwegrollen werden? Die Platte hat aber auch ruhige, verletzlich wirkende Momente. Entdeckung! (8,5 von 10 Punkten)
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Model/Actriz - Diva (Audio)
ANGEL BAT DAWID – Journey To Nabta Playa
Ein besonderes, experimentelles Werk zweier Künstlerinnen aus den USA: Angel Bat Dawid und Naima Nefertari haben sich zu einem Jazz-Album zusammengetan – es heißt Journey To Nabta Playa. Die Reise in die abgelegene, afrikanische Wüste beschäftigt sich mit dem alten astrologischen Steinkreis von Nabta Playa – im Süden Ägyptens. Aufgenommen wurde in Schweden in einem alten Schulhaus – und in Chicago. Angel und Naima betonen die Schwesternschaft ihrer Platte – haben eine starke Verbindung zu Gemeinschaft, Abstammung und Klang als Ritual.
"Es heißt, dass vor langer Zeit in Afrika einige der Menschen diese Magie beherrschten. Und sie gingen durch die Luft, als ob sie an einem Tor hochkletterten. Und sie flogen wie Amseln über die Felder. Schwarze, glänzende Flügel, die gegen das Blau dort oben schlugen."
(Virginia Hamilton, The People Could Fly)
Die Platte ist eine „Mythologie in Musik“, wie sie sagen. Mit anderen Worten: eine sakrale Reise – mit dem tief verwurzelten schwarzen Wissen, wie dem, dass Menschen früher fliegen konnten. (7,5 von 10 Punkten)
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Black Stones of Sirius - Angel Bat Dawid & Naima Nefertari
DIE GRENZKONTROLLE – Edelweiss EP
Die ersten drei Songs der Kölner Newcomer: das hier ist POC-NNDW. Und Self-Empowerment der punky Lo-Fi-Sorte. Bei der Hautfarbe ihrer Mitglieder ist der Bandname gut gewählt – ebenso die Haltung der Texte: "Du wählst hellblau, die Faschos applaudieren, auf den Hass kann ich nur mit Hass reagieren." (Revolution) "Wenn ich dir auf die Fresse hau, bin ich ein schlechter Mensch." (Schlechter Mensch)
Wer hätte sich vorstellen können, dass Songs, die auf eine Playlist zwischen Fehlfarben und Grauzone passen, eines Tages von afrodeutschen Musiker*innen geschrieben werden würden? Aber eigentlich klare Sache. Den Frust und Zorn der späten 70er / frühen 80er No-Wave-Tage erlebt Die Grenzkontrolle ganz genauso – plus den Rassismus. So macht die NNDW als Wiedergänger der NDW Sinn. Toll, dass es euch nun gibt! Und ihr (mit euren Mitteln) zurückschlagt. (8,0 von 10 Punkten)
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GRENZKONTROLLE - EDELWEIß (VISUALIZER)