Neuerscheinungen der Woche Neue Alben von u. a. DJ Koze, Σtella, Lawrence Hart und Black Country, New Road
Unser wöchentlicher Neuheiten-Check mit DJ Koze, Σtella, Black Country, New Road, David Longstreth X Dirty Projectors X stargaze, Anika, Barker, Momma, Lawrence Hart, Oscar Jerome und Penelope Trappes.

Σtella – Adagio
Der Frühling nimmt gerade so richtig Fahrt auf, da kommt uns der sommerlich leichte West-Coast-Sound von Σtella gerade rechts. Ihr luftiger Indie-Folk, der südamerikanische aber auch griechische Harmonien dezent integriert, weht mit einer unglaublichen Eleganz über unsere frühjahrsmüden Köpfe hinweg. Nach dem etwas organischeren Vorgänger "Up and away", auf dem z.B. auch eine orientalische Zither zu hören war, kehrt die Griechin Σtella Chronopoulou damit zu ihrem früheren Soundentwurf zurück. Zu mehr Synthieklängen, mehr Yacht-Pop-Glanz. Die Stimme von Σtella klingt dabei immer sehr tiefenentspannt, sehr gelassen … und ist doch voller melancholischer Sehnsucht. (7,9 von 10 Punkten)
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Σtella - Adagio (Official Video)
Black Country, New – Forever Howlong
Ursprünglich war die britische Band Black Country, New Road ja mal eine ziemlich fabelhafte Post-Punk-Band mit Hang zum wilden Experimentieren. Zusammen mit anderen wütenden Post-Brexit-Punk-Bands wie Black Midi oder Squid gehörten Black Country, New Road zur hippen Windmill-Scene in Brixton. Ihr Markenzeichen: der zur Theatralik neigende Sprechgesang von Sänger Isaac Wood, der mich immer an den frühen Conor Oberst erinnert hat. Oder an Arcade Fire, damals die großen Vorbilder von Black Country, New Road. Isaac Wood hat die Band allerdings 2022 verlassen. Daraufhin haben die drei weiblichen Bandmitglieder Georgia Ellery, May Kershaw und Tyler Hyde den Gesang und auch das Songwriting auf dem neuen Album übernommen. Und schnell wird klar, Black Country, New Road haben sich vom düsteren, verzweifelten Post-Punk von einst verabschiedet und machen jetzt melodieseligen, sehr verspielten, ja manchmal ausgesprochen opulenten Kammer-Pop bzw. Art Rock. Musik, die mich mal an Regina Spektor, mal an Joanna Newsom und ihren experimentellen Folk-Ansatz denken lässt. Auf alle Fälle immer mit Melodien zum Niederknien. Und was die Lyrics angeht, da ist "Forever howlong" definitiv kein "tears in your beer"-Album mehr wie der Vorgänger. Statt der männlichen Perspektive ist es diesmal die weibliche Sichtweise der Dinge, die das Album prägt. Was sich allerdings nicht verändert hat: die Songs von Black Country, New Road haben nach wie vor etwas Rauschhaftes, eine Euphorie, die mich auch diesmal wieder ziemlich mitgereißt. Frei nach dem Motto: "look at what we did together / Black Country, New Road, friends forever!”. (8 von 10 Punkten)
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Black Country, New Road - 'Forever Howlong' (Official Audio)
DJ Koze – Music Can Hear Us
Ein Sextett wie Black Country, New Road ist mittlerweile ja schon fast eine Seltenheit. Der Trend geht zum Solo-Act, zumindest ist das in den deutschen Single-Charts so. DJ Koze, der in den 1990er Jahren noch ein Teil der Hamburger Rap-Combo Fischmob war und später mit International Pony unterwegs, schätzt es übrigens auch sehr solo zu sein. Uns allein mit seinen wunderbar verschwurbelten Tracks glücklich zu machen. Das gilt auch für sein neues Album, eine bittersüße Pop-Platte. Ein Album, das tatsächlich "Music can hear us" heißt und nicht umgekehrt. Nicht die Menschen reagieren hier auf die Musik, sondern die Musik hört uns, ist, laut DJ Koze, ein Spiegel unserer Emotionen. Und auch wenn unser Lieblingsproduzent mittlerweile am liebsten alleine Musik macht, ohne Band, hat er für "Music can hear us" doch viele tolle Gäste eingeladen. Die Düsseldorf Düsterboys, Sophia Kennedy und Sofia Kourtesis, Ada, Soap & Skin und Markus Acher von The Notwist, um nur einige zu nennen. So bunt wie die Gästeliste ist dann auch das Album selbst. Mit seinem sehr eigenen, aber auch immer wieder sehr überraschenden Mix aus House, Pop und Psychedelica. Und dabei immer elegant und geschmeidig wie der sanft federnde Sprung einer Katze … DJ Koze liebt übrigens Katzen, genauso wie er Damon Albarn schätzt, fame of Blur und Gorillaz.
"Music can hear us" ist ein wirklich seeeehr entspanntes Album, hier will erst mal kein Song in den Club. Und wenn, dann nur zur Afterhour. Aber gegen Ende nimmt das Ganze doch noch Fahrt auf und der Song "Die Gondel" drängelt Richtung Dancefloor. Und wenn wir erst mal im "Buschtaxi" sitzen bzw. der gleichnamige Song läuft, gibt‘s bei mir sowieso kein Halten mehr. Denn auch wenn "Music can hear us" das vermutlich bisher poppigste DJ Koze-Album ist, ein Kurztrip in die Weiten des Club-Kosmos geht bei ihm immer. (9 von 10 Punkten)
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DJ Koze - Buschtaxi (Official Visualizer)
Anika – Abyss
Auch die in Berlin lebende Britin Annika Henderson aka Anika bleibt nicht stehen, entwickelt sich und ihren Sound ständig weiter. Auf ihrem neuen Album "Abyss" ist sie kaum wiederzuerkennen. Hat sie ihr so tolles wie düster-experimentelles Elektronik-Debüt, das bereits 2011 erschienen ist, noch zusammen mit Beak, der Band von Geoff Barrow aufgenommen, trug der Nachfolger den Change-Prozess, also die Verwandlung, schon im Namen. "Change" war ein super abwechslungsreiches Album mit poppigen Elementen, aber auch mit Synth-Punk-Passagen, die an Bands wie Suicide erinnern. Alles und immer verbunden durch die tiefe Stimme von Anika, die mich manchmal an PJ Harvey und manchmal sogar an Nico denken lässt. Auf alle Fälle eine sehr signifikante, etwas kühle, manchmal leicht somnambule Stimme. Auf ihrem neuen Album "Abyss" beschäftigt sich Anika, deren Musik in der Vergangenheit auch schon von Hannah Arendt beeinflusst war, wieder mit der harten politischen Realität. Mit dem Aufstieg des Faschismus ("One way ticket"), der extremen Spaltung der politischen Lager und mit dem Problem der Fake-News ("Hearsay"). Musikalisch ist "Abyss" weniger komplex und sperrig als die Vorgänger. Hat aber dennoch eine Tiefe, eine Dringlichkeit, eine Roughness und einen treibenden Groove, was mir alles ausgesprochen gut gefällt. Mit Wave-Gitarren, wie sie in der Popgeschichte nicht ganz unbekannt sind, aber immer wieder gern zitiert werden. Außerdem habe sie viel 90’s Grunge bzw. Alternative Rock gehört, furchtlose Bands wie Hole z.B., so Anika. Auch das hat dem neuen, rebellischen Pop-Entwurf von Anika nicht geschadet. (7,9 von 10 Punkten)
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Anika - Walk Away (Official Video)
Momma – Welcome to My Blue Sky
Auch Momma aus Brooklyn, New York, haben offensichtlich eifrig Bands aus den 90’s studiert. Beim Hören von "Welcome to my blue sky" taucht bei mir sofort die junge Juliana Hatfield auf. Die mädchenhafte Stimme, die umwerfenden Popmelodien und die kantigen Gitarren. In der Bostoner College-Rock-Szene war Hatfield damit Anfang der 90‘s nicht unerfolgreich, wurde allerdings nie so bekannt wie ihre Kollegen von den Lemonheads oder Dinosaur Jr.. Sängerinnen, Songschreiberinnen und Gitarristinnen in einem waren damals noch eher eine Seltenheit. Das hat sich zum Glück gewandelt. Vorhin hatten wir schon Black Country, New Road mit drei Sängerinnen bzw. Songschreiberinnen und bei Momma, da sind es immerhin zwei, Etta Friedman und Allegra Weingarten. Die beiden erzählen hier, ähnlich wie Juliana Hatfield damals, Autobiographisches. Von Lieb- und Freundschaften … und dem Chaos, das dabei oft entsteht. Ein nicht unbedingt innovatives, aber sehr sympathisches Indie-Pop-Rock-Album. (7,6 von 10 Punkten)
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Momma - I Want You (Fever) (Music Video)
David Longstreth, Dirty Projectors & stargaze – Song of the Earth
Ich muss gestehen, mein Verhältnis zu den Dirty Projectors, respektive ihrem Frontmann David Longstreth, war in letzter Zeit nicht unbedingt das Beste. Mal erschien mir Longstreth zu arty ("5 EPs"), mal zu überdreht, ja regelrecht hyperaktiv ("Lamp lit prose"). Und auch sein neues 24 Tracks umfassendes Mammut-Album "Song of the Earth", das er zusammen mit dem Berliner Orchester-Kollektiv stargaze und seiner Band den Dirty Projectors aufgenommen hat, macht es einem nicht ganz leicht. Die Stimme von David Longstreth klingt zwar zweifelsohne nach wie vor so smooth wie ein Samtkissen, seine kompositorischen Fähigkeiten sind ebenfalls unbestritten. Der Grammy-nominierte Musiker hat ja u.a. schon mit Björk, Solange und David Byrne zusammengearbeitet. Dass er sich diesmal allerdings von einem ganzen Orchester begleiten lässt, macht die Sache dann doch etwas gewöhnungsbedürftig. Beim Hören hatte ich manchmal das Gefühl als würde mich jemand in einen Kinosessel drücken und zwingen einen Blockbuster bzw. Arthouse-Film anzuschauen. Ein seeehr ambitioniertes Projekt dieses Album. Die erste Version davon hat Longstreth innerhalb von nur sechs Wochen geschrieben. Damals, im Chaos der Pandemie, ist er zusammen mit seiner schwangeren Freundin vor den Bränden in Kalifornien nach Alaska geflohen. Bei seiner Ankunft dort war er überwältigt von der Schönheit und erholsamen Kühle Alaskas. "Song of the Earth" ist, laut Longstreth, deshalb auch keine Klimawandel-Oper, sondern eine Liebeserklärung an die Erde. In dieser Liebeserklärung tauchen dann zwar auch so bekannte Namen wie Steve Lacy (The Internet) oder Mount Eerie auf, aber auch sie machen aus diesem Klassik-Pop-Hybrid keine leichte Kost. Ein sehr forderndes, sehr anspruchsvolles Album, das, wenn man sich darauf einlässt, aber auch sehr faszinierend sein kann. (7,9 von 10 Punkten)
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Uninhabitable Earth, Paragraph One - Dirty Projectors, David Longstreth, stargaze
Penelope Trappes – A Requiem
"A requiem" ist genau das, was der Titel verspricht: eine Totenmesse. Ruhige, elektronische Soundscapes tragen die geisterhaften Vocals von Penelope Trappes. Die in Brighton lebende Australierin hat sich für die Aufnahmen ins einsame Schottland zurückgezogen. Das perfekte Ambiente für diese experimentellen Gothic-Tracks über Tod, Traum und Alptraum. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Cello, das Trappes wie ein dunkler Geist begleitet. "I always felt an affinity toward the cello, I embraced it, held it, and became one with it as a way to accompany my voice. The nerve-like strings of the cello became external chords of my vocal folds…” Definitiv keine Happy-go-lucky-Platte, aber durchaus ein Album, das etwas Kathartisches haben kann, so weltabgewandt und jenseitig wie eine Sigur-Rós-Platte. (7,7 von 10 Punkten)
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Penelope Trappes - A Requiem
Oscar Jerome – The Fork
Als Teil der Londoner Nu-Jazz-Szene kennt man Oscar Jerome schon eine Weile. Er hat bei Kokoroko mitgespielt und mit Shabaka Hutchings und Moses Boyd zusammengearbeitet. Aber er hat mittlerweile auch schon zwei Solo-Alben veröffentlicht und morgen erscheint Album Nr 3. Spätestens seit seinem Debüt "Breathe deep” wissen wir: Oscar Jerome ist nicht nur ein begnadeter Jazz-Gitarrist, sondern auch ein toller Songwriter. Dessen Songs sehr laid back daherkommen, einen wunderbaren, leicht schläfrigen Flow haben. Jazz, Funk und Soul eins werden lassen und dabei immer sehr introvertiert klingen. Und die sich gern mit dem Thema Essen beschäftigen. So hat es sich Oscar Jerome für sein neues Album mit dem Titel "The Fork”, die Gabel, zur Aufgabe gemacht, Tracks des Vorgängeralbums "The Spoon”, der Löffel, zu sampeln und daraus völlig neue Songs zu bauen. Songs, die jetzt Titel tragen wie "The Butter”, "The Potato” oder "Sex on toast”. (7,9 von 10 Punkten)
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Oscar Jerome - The Fork (Official Film)
Barker – Stochastic drift
Der Brite Sam Barker lebt schon geraume Zeit in Berlin, ist dort Berghain Resident und hat bereits 2019 als Barker sein Debütalbum "Utility" veröffentlicht. Im Groove-Magazin war damals über Barkers Debüt zu lesen: "Die Musik von Sam Barker kann so verworren klingen wie der Familienstammbaum einer durchschnittlichen Game of Thrones-Figur. Nicht selten hat es den Anschein, als würden die pulsierenden Sounds ein labyrinthisches Netz bilden, dessen Struktur höchstens der Urheber selbst überblicken kann: klanggewordenes Geheimwissen, schwer zu entschlüsseln." Sechs Jahre später erscheint jetzt Barkers zweites Album "Stochastic drift". Wie beim Vorgänger prallen auch hier wieder Techno und Ambient-Elemente aufeinander. Und die Kickdrum glänzt mit Abwesenheit. Dafür fließt gegen Ende noch etwas Jazz mit ein in den Sound. Laut Barker ist das Album in einer Zeit der kollektiven Unsicherheit, sprich während der Pandemie entstanden. Barker hat versucht diese seltsame Situation, die konstante Ungewissheit, das Chaos dieser Zeit im Album zu verarbeiten. Und es deshalb auch "Stochastic Drift" genannt, nach der mathematischen Theorie der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Barker hantiert ja gern mit den verschiedensten Theorien und Konzepten, was seine Musik angeht. Für den Vorgänger "Utility" hat sich der Wahlberliner z.B. auf das Utilitätsprinzip bezogen, das Nützlichkeitsprinzip. Er hatte sich gefragt, warum er Musik macht – seine Antwort: weil es ihn und seine Umgebung glücklich macht. Nicht maximal euphorisch, dafür fehlt der Beat, eher nachhaltig glücklich. Und das ist Barker, zumindest was mich betrifft, diesmal wieder mehr als gelungen. "Stochastic Drift" steckt voller kompliziert miteinander verwobener Melodien und Sounds. Mit viel Tiefe, Hall und einer genresprengenden Experimentierfreude, die an seine Vorbilder, Acts wie Autechre und Squarepusher erinnert. Ebenfalls wieder "klanggewordenes Geheimwissen, schwer zu entschlüsseln", aber von außergewöhnlicher, fluider Schönheit. Bleibt nur zu hoffen, dass Barker für sein nächstes Album nicht wieder sechs Jahre braucht. (8 von 10 Punkten)
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Stochastic Drift
Lawrence Hart – Come In Out of the Rain
Der britische DJ und Produzent macht mit "Come in out of the rain" schon mal richtig Lust aufs Wochenende, liefert ordentlich Stoff für den Dancefloor. Mit euphorischen Garage- bzw. Breakbeat-Tracks für den Club, liebevoll gespickt mit Sped-up-Samples, die Hart auf Discogs entdeckt hat als er dort nach vergessenen R’n’B-Perlen aus den 90’s gesucht hat ("Closer to you", "Just belong", "Hear Ur heartbeat", "Fucking Mega"). Dazwischen aber auch immer wieder melancholisch-sphärische, fast ein wenig esoterische Synthie-Flächen, um kurz Luft zu holen ("Still but still moving", "The wind cry"). Produzenten wie Floating Points sind schon Fans, ich bin es mittlerweile auch. Lawrence Hart wollte ursprünglich Jazz-Trompeter werden, ist auch schon in etlichen renommierten Jazzclubs in New York aufgetreten … hat dann aber Four Tet und Aphex Twin, überhaupt elektronische Musik für sich entdeckt. Zum Glück. (8,1 von 10 Punkten)
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Lawrence Hart - Come In Out Of The Rain (Live)