Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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30.04.1993 Das World Wide Web wird freigegeben

Das World Wide Web entstand 1989 als Projekt an der Forschungseinrichtung CERN. HTML, Webseiten und Hyperlinks haben unser Leben seither grundlegend verändert. Autor: Johannes Roßteuscher

Stand: 30.04.2020 | Archiv

30 April

Donnerstag, 30. April 2020

Autor(in): Johannes Roßteuscher

Sprecher(in): Caroline Ebner

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

CERN – Conseil européen pour la recherche nucléaire. Ein irrer Name, oder? Und ein irres Bauwerk. Ein unterirdischer Ring, 27 Kilometer lang, verbuddelt neben dem Genfer See. Und was darin passiert! Subatomare Teilchen rasen mit 99,9 Prozent der Lichtgeschwindigkeit im Kreis herum, krachen aufeinander, erschaffen neue Teilchen, deren Namen  wir kaum aussprechen können. Wenn man sich moderne Physik nicht so vorstellt, wie dann? Hyperintelligente Menschen vor hypermodernen Geräten auf der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Und was sie schon alles gefunden oder erschaffen haben. Higgs-Boson und das Teilchen, das in zwei  in zwei Bottom-Quarks  zerfällt, zum Beispiel. Und ganz nebenbei, sozusagen als Kollateralschaden – dafür noch anwender-spezifischer: Pornovideos! In riesiger Zahl. Zum Beispiel die "XXL Blowjob Compilation".

Folgenreiche Erfindung

Sie können jetzt ruhig empört einatmen, aber es ist nun mal so: Am Cern bei Genf wurden nicht nur der Nachweis des Higgs-Teilchens erbracht, sondern auch das World Wide Web erfunden. Also das Medium für die  milliardenfache Verbreitung von Filmen, in denen leicht bekleidete Menschen, nun ja: das suchen, was die Welt im Innersten zusammenhält – sehr poetisch ausgedrückt. 

Ein Sprung zurück ins Jahr 1989. "Lambada" führte die Charts an, die Mauer bekam ein Loch und Deutscher Fußballmeister wurde – der FC Bayern... In diesem Jahr fasste der englische CERN-Physiker Tim Berners-Lee den Vorsatz, den Austausch von Wissenschaft durchschlagend zu erleichtern. Basierend auf dem schon existierenden Internet – einer damals freilich rudimentären Vernetzung von Großrechnern, mit der allenfalls Groß-Nerds arbeiteten. Vier Jahre programmierte und probierte er herum – und schaffte schließlich zusammen mit seinen Kollegen die technologischen Voraussetzungen für: nicht weniger als eine Revolution. 

Und das aus heutiger Sicht revolutionärste daran: Das nagelneue world wide web sollte nichts kosten: ohne jede Lizenzgebühr für jeden zur Verfügung stehen. Berners-Lee und seinen Kollegen war – das versichern sie bis heute glaubhaft – nur an der Verbesserung der Welt gelegen.

Am 30. April 1993 – die Charts angeführt wurden inzwischen von "All that she wants" – gaben die Cern-Physiker das web für die Welt frei. Und hatten dabei weder Filme über körperliche Liebe noch Milliarden im Sinn. Die – machten andere. Denen nicht mehr ganz so streng an der Verbesserung der Welt gelegen war. Dafür kennt ihre heute jeder: Zuckerberg, Page, Bezos.

Spaltpilz der Gesellschaft

Nein, nein, es ist nicht so, dass das Internet nur zwielichtige Milliardären hervorgebracht hat. Es gibt Trolle, Bots, manipulierte Wahlen.

Etliche der frühen Web-Pioniere distanzieren sich aufrichtig von dem, was sie da geschaffen haben. "Spaltpilz der Gesellschaft" nannte Berners-Lee das Web in einem Aufsatz – und verteidigt es gleichwohl immer noch. Er ist mit dem Internet nicht reich geworden, aber anständig geblieben – und optimistisch. Mehr als 30 Jahre nach seiner Erfindung arbeitet er an einem Projekt, das eines Tages die Hoheit über die Daten zurückholen soll, von den Milliardären wieder zu den Nutzern.

Immer wieder in der Geschichte haben Physiker zweimal im Leben bahnbrechendes gefunden oder erfunden. Vielleicht gehört Berners-Lee ja dazu. 


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