15. Januar 1885 Wilson Bentley macht die erste Fotografie von einer Schneeflocke
Flüchtig und zart und nur für einen Augenblick auf der Hand, im Haar: Schneeflocken. Die müssen sich doch bannen lassen, zumindest per Bild, denkt Schüler Wilson und fotografiert vorsichtig drauf los. Autorin: Justina Schreiber
15. Januar
Mittwoch, 15. Januar 2020
Autor(in): Justina Schreiber
Sprecher(in): Caroline Ebner
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Keine Schneeflocke gleicht der anderen. Woher weiß man das eigentlich so genau? Angenommen, man wollte den Fall, beziehungsweise den Schneefall, synchron betrachten, also all die Flocken, die gleichzeitig vom Himmel schweben, vergleichen. Dann wären ja riesige Auffangvorrichtungen nötig, in denen die zarten Blüten und Sterne vorsichtig und zugleich blitzschnell analysiert werden müssten. Eine Sisyphusarbeit. Denn sie sind so schnell dahin, diese zu Flocken verklebten federleichten Eiskristalle!
Schneeflocken fängt man am besten mit dem Mund!
Selbst wenn man sich mit ausgewählten Stichproben begnügen würde, bliebe das Problem, dass die Flocke von vorhin oder der Schnee von vorvorgestern zum Abgleich nicht mehr zur Verfügung steht. Vielleicht kehren einige der geometrisch perfekten Plättchen- oder Bäumchenmuster ja turnusmäßig wieder – in bestimmten Gegenden oder bei bestimmten Wetterbedingungen etwa. So unerschöpflich kann der Vorrat an zauberhaften Mustern doch gar nicht sein, dass jede einzelne der Zentillionen von Flocken, die es in der Erdgeschichte bereits vom Himmel geweht hat, unverwechselbar war! Was für eine immense Verschwendung von Schönheit… wie gewonnen so zerronnen!
Die muss doch zu konservieren sein, die Flocke!
Da kann man den Farmersohn Wilson Bentley schon verstehen, der als berühmtester und enthusiastischster Schneeflocken-Fänger in die Geschichte einging. Im Alter von 19 Jahren gelang es ihm am 15. Januar 1885, erstmals eine Schneeflocke zu fotografieren. Unterstützt von seiner Mutter, einer Lehrerin, die ihn erst mit einem Mikroskop und dann mit einer Balgenkamera mit Mikroobjektiv versorgte, experimentierte der schrullige Jugendliche so lange herum, bis er es endlich schaffte, eins dieser winzigen Wunderwerke der Natur auf die Platte zu bannen. Bentleys Methode scheint heute noch probat. Bei starkem Schneefall ging es hinaus ins Freie. Ein schwarzes Holztablett diente als Käscher. Lag ein Prachtexemplar günstig frei, trug der junge Mann seine flüchtige Beute in den kalten Schuppen, um zu fotografieren. Heute gibt es raffinierte Nahlinsen, Blitzlicht und technischen Schnickschnack, der das Ergebnis optimiert. Der Junge aus dem Provinznest Jericho im Bundesstaat Vermont jedoch musste sehr viel Frust aushalten. Nicht nur, dass der Atem des Jägers das Objekt seiner Begierde dahin schmelzen lässt, sobald er ihm zu nahekommt. Lange zeigte kaum jemand Verständnis, geschweige denn Interesse für das merkwürdige Hobby des Eigenbrötlers, der nebenbei übrigens fleißig dokumentierte, wie Wind und Wetter das Verhalten des Schnees, also "seines" Schnees, beeinflussten. Zwar gelangten Bentleys Fotos sogar bis nach Europa. Und Juweliere und Textildesigner wollten die faszinierenden hexagonalen Muster vermarkten. Die Wissenschaft erkannte den Autodidakten zeitlebens nicht an. Allerdings dienten seine zauberhaften Aufnahmen von 5381 einzigartigen Schneeflocken später noch lange der Forschung, die letztlich Bentleys Vermutung bestätigte. Keine Schneeflocke gleicht der anderen.