Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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8. April 1997 Ende des Wildwest-Romans

Der Wilde Westen, zunächst ein unwirtlicher Ort für Einwanderer, erwies sich als perfekte Projektionsfläche für die Fantasie von Geschichtenerfindern. So entstand das literarische Genre des Wildwest-Romans. Autorin: Christiane Neukirch

Stand: 08.04.2020 | Archiv

08 April

Mittwoch, 08. April 2020

Autor(in): Christiane Neukirch

Sprecher(in): Caroline Ebner

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Der „Wilde Westen“ – was ist das? Ein Ort, ja: der Westen des nordamerikanischen Kontinents, grob gesagt. Ein Ort der Sehnsucht auch, für Immigranten, man könnte auch sagen: Flüchtlinge, die in dem noch wenig besiedelten Teil des Kontinents Chancen suchten, als es an der Ostküste schon eng wurde. Gold, Land, ein neues Leben, darauf hofften sie und nahmen dafür Gefahren und Strapazen auf sich, um dorthin zu gelangen auf unerschlossenen Wegen. Nur die Hartgesottensten kamen heil an. So entstand dort – auf Kosten der dort lebenden Ureinwohner - ein neuer Lebensraum. Es war ein gesetzloser Raum, in dem die Gesellschaft sich ungeregelt formte und das Verbrechen sich in all seinen Spielformen ausprobierte.

Mythos und große Oper

Eine wunderbare Kulisse für Dramen war es, eine einzigartige Projektionsfläche für Fantasien. Hauptsächlich für Männerfantasien – hier ließ sich im Geiste alles ausleben, was Mann sonst nirgends mehr richtig tun konnte. Schießen, Frauen beschützen, Banken ausrauben, Sheriff spielen, für eine gerechte Sache sterben. Und sterben, das hieß nicht einfach sang- und klanglos im Bett wegdämmern oder mit einem Herzinfarkt zusammenbrechen. Es hieß, von der Kugel des Gegners getroffen in eleganter Choreografie zu Boden gleiten – um dann noch in wohlgesetzten Worten und mit gepresster Schmerzensstimme die letzten Dinge zu regeln für Freunde, Familien und Geliebte. Feinster Stoff für große Opern.

So wurde aus dem ursprünglich realen Ort ein Mythos. Geschichten wurden darum gesponnen und mit einer ordentlichen Prise Romantik gewürzt: die Geburtsstunde des Wildwestromans schlug mit James Fennimore Coopers "Lederstrumpf-Geschichten", verfasst zwischen 1823 und 1841. Am besten aber gedieh die Fantasie in der Ferne – und mit ihr der Mythos. Etwa in der sächsischen Gefängniszelle, in der Karl May um 1870 seine Wildwest-Bestseller erdachte.

Das Ende des Wilden Westens

Die Geschichten erfreuten sich großer Beliebtheit, und so gab man den Wildwest-Stoff bald auch in Serien von Groschenheften heraus. Die Bände waren geziert von fantasievoll bebilderten Covern. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs sich das Genre zu einem regelrechten Boom aus. Die meisten Bücher und Hefte erschienen nicht etwa in Amerika, sondern in Deutschland. Im April 1957 startete der Bastei-Verlag die bekannteste Serie: "Wildwestroman". Der nüchterne Titel tat der Beliebtheit keinen Abbruch. Vierzig Jahre lang konnten die Fans lesend in die Ferne reisen und in die Welt des "Wilden Westens" abtauchen. Während der dort geschilderte Sehnsuchtsort in seiner Gründerzeit stehen blieb, tickte die Zeit erst schleichend, dann immer schneller am Medium "Groschenheft" vorbei. Film und Fernsehen, Videos und Spiele machten dem papierenen Medium zunehmend Konkurrenz; und als die Prärien der Erde abgegrast waren, begaben sich neue Helden zu neuen Schauplätzen auch jenseits unseres Planeten. Am 8. April 1997 war Schluss mit dem Wildwestroman, das letzte Heft erschien. So virtuos der Cowboy im Sattel unterwegs war – den Sprung ins dritte Jahrtausend hat er knapp verfehlt.


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