Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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9. Dezember 1918 Tristan Tzara veröffentlicht das Manifest des Dadaismus

Vernichtung der Logik, Vernichtung des Gedächtnisses, Vernichtung der Archäologie, alle Individualitäten in ihrem Augenblickswahn achten sind nur ein paar der Forderungen, die Tristan Tzara in seinem Manifest des Dadaismus erhob. Mit Hans Arp und Hugo Ball gründete Tzara die Zürcher Gruppe des Dadaismus. Autorin: Justina Schreiber

Stand: 09.12.2022 | Archiv

09 Dezember

Freitag, 09. Dezember 2022

Autor(in): Justina Schreiber

Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Am 09. Dezember 1918 hielt Tristan Tzara endlich das fertige Magazin Dada 3 in Händen. Zu guter Letzt war auch noch sein Drucker, ein bekannter Anarchist, verhaftet worden. Angeblich hatte er "Militärgesetze nicht beachtet". Wahrscheinlicher war, dass die Zürcher Behörden den Mann während des landesweiten Generalstreiks von der Straße haben wollten. Selbst in der Schweiz brodelte es damals in der Arbeiterschaft, die revolutionäre Stimmung schwappte aus Deutschland herüber. Allerorten lagen die Nerven blank. Kein Wunder nach diesem Krieg, der Europa in ein blutiges Schlachtfeld verwandelt hatte! Ein "Weiter so!" war unmöglich geworden. Aber welchen Ideen sollte man nun folgen, welchen Wahrheiten noch trauen?

Verflechtung aller Widersprüche

Auch die Kunst musste ihren Kurs ganz sicher ändern. Das Magazin Dada 3, das Tristan Tzara am 09. Dezember 1918 endlich in Händen hielt, präsentierte auf den ersten drei Seiten einen programmatischen Text, den der junge Herausgeber selbst verfasst hatte: das "Manifest Dada 1918". Tristan Tzara hatte es bereits neun Monate zuvor, im März 1918, im Zürcher Zunftsaal zur Meise mündlich vorgetragen. Das Publikum reagierte allerdings erschöpft. Nicht nur, dass Tzara, der rumänische Immigrant, mit schwerem Akzent französisch sprach. Sein Manifest, das kein Manifest sein wollte, bestand vor allem aus widersprüchlichen, sich wechselseitig aufhebenden Aussagen. Als führte es Attacken gegen die eigenen, ansatzweise sinnstiftenden Worte! Aber Dada war eben genau das - laut Tzara: "Tanz der zur Schöpfung Unfähigen" sowie "Verflechtung aller Widersprüche, der Grotesken, der Inkonsequenzen". Also in diesem Fall echt schwere Kost. Wobei der 22-jährige Autor durchaus wusste, dass er allein auf der Bühne nur einen schwachen Abklatsch vergangener Dada-Abende liefern konnte. Damals johlte, pfiff und stampfte der Saal, wenn Tristan Tzara und seine Freunde Hugo Ball, Richard Huelsenbeck, Hans Arp und Marcel Janco unter Trommelschlägen Verse ohne Worte in den Tumult riefen und Emmy Hennings mit künstlicher Mädchenstimme ihr Gedicht "Kritik der Leiche" deklamierte ...

Saubermachen

Vorbei! Denn kaum hatten sie zusammen Dada erfunden, war die Zürcher Künstler-Clique auch schon wieder auseinandergebrochen. Wie das so ist bei jungen Leuten und in Zeiten, in denen man aus Koffern lebt. Trotzdem und umso mehr brauchte die Welt den "dadaistischen Ekel" vor Philosophie, Moral, Logik und all den anderen "saubermachenden" Arbeiten, den (Zitat Tzara) "literarische(n) Quacksalber in Verbesserungswehen" produzierten. Leben bedeutete schließlich Chaos!! Insofern war es überraschend konsequent, dass Tristan Tzara nach seinem Das-ist-kein-Manifest-Manifest-Vortrag einen Nervenzusammenbruch erlitt. Aber selbst die Reha-Kur am Vierwaldstätter See verbrachte er im Sinne Dadas. Ruhelos agierend und kontaktierend mühte er sich, das Magazin Dada 3 zu organisieren, um die Flamme der hirnumwälzenden Kunstbewegung weiterzutragen. Mit Erfolg. Etwa bei den Pariser Surrealisten kam Tzaras paradoxes Programm prima an: "Was wir brauchen, sind starke, gerade, genaue und für immer unverstandene Werke." C‘est tout à fait juste!


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