Bayern 2 - Das Kalenderblatt


2

09. Mai 1936 Streik der Tabakarbeiter in Thessaloniki

Über Dinge schreiben, oder singen – Kunst aus dem Grauen machen, um ihm eine Form zu geben, zugleich verarbeiten und mahnen. So sollte der Tod eines streikenden Tabakarbeiters nicht umsonst gewesen sein. Autor: Xaver Frühbeis

Stand: 09.05.2018 | Archiv

09 Mai

Mittwoch, 09. Mai 2018

Autor(in): Xaver Frühbeis

Sprecher(in): Christian Baumann

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Am 9. Mai 1936 gehen in der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki die Arbeiter der Tabakfabriken auf die Straße. Sie demonstrieren um höhere Löhne. Die Polizei schießt, es gibt zwölf Tote und Hunderte Verletzte. Tags darauf ist in einer griechischen Zeitung ein großes Foto zu sehen. Ein junger Arbeiter, neben ihm seine Mutter, schwarz gekleidet, sie breitet die Arme aus, beugt sich über die Leiche und beklagt den Tod ihres Sohns.

Darüber schreiben

Den Dichter Yannis Ritsos hat dieses Bild so aufgewühlt, dass er sich zuhause einschloss und innerhalb von zwei Tagen und zwei Nächten einen Zyklus aus zwanzig Gedichten schrieb. Gedichte, in denen die Mutter mit ihrem toten Sohn spricht. Sie erinnert sich, wie schön es war, als er noch gelebt hat, sie fragt ihn, wie das möglich sein kann, dass Christen andere Christen auf der Straße erschießen, und am Ende verspricht sie ihm, zusammen mit seinen Leuten zu marschieren und mit ihnen für eine gerechtere Welt zu kämpfen. Das ist der berühmte "Epitaph". Die "Grabrede" des Yannis Ritsos. Die Gedichte werden gedruckt und sofort von der Regierung verboten. Drei Monate später verbrennt man die letzten Exemplare auf offener Straße in Athen.

Darüber singen

Zwanzig Jahre später werden Ritsos' Gedichte wieder neu aufgelegt. Der junge Komponist Mikis Theodorakis liest sie in Paris, im Auto auf einem Supermarkt-Parkplatz, während er auf seine Frau wartet, und fängt - noch im Auto - an zu komponieren. Die ersten Noten kratzelt er auf den freien Rand der Buchseiten. So vertont Theodorakis acht der "Epitaphios"-Gedichte seines Freundes Yannis Ritsos. Dann schickt er die Noten nach Griechenland, zu dem Komponisten Manos Chatzidakis. Der aber macht daraus ein Kunstmusik-Arrangement, das man auch im Westen gut anhören kann. Theodorakis ist gar nicht zufrieden. Ein so griechisches Thema muss doch auch griechisch aufgeführt werden. Wer könnte das möglichst authentisch singen?

Theodorakis erinnert sich an einen jungen Kerl, den er vor Jahren in einem Konzentrationslager auf einer Strafinsel kennengelernt hat. Grigoris Bithikotsis, ein Kneipensänger des Rembetiko. Theodorakis treibt den Mann in Athen auf, er ist im Moment dabei, als Gastarbeiter nach Kanada auszuwandern. Das wird verhindert. Theodorakis nimmt den "Epitaphios" jetzt selber auf: mit Bithikotsis und mit dem berühmten Bouzoukispieler Manolis Chiotis. Als Ritsos erfährt, was Theodorakis vor hat, erschrickt er. Seine edlen Verse, und dazu der Sänger mit der rauhen Rembetiko-Stimme, und dazu noch die Bouzouki, die jeder anständige Grieche als Kneipen- und Gossen-Instrument verachtet. Ob das gut geht? Es geht gut. Im Sommer 1960 kommt die Platte in die Läden, ein paar Monate später schreibt Bithikotsis an Theodorakis: Du mußt unbedingt nach Athen in meine neue Musikbar kommen. Es ist grandios. Alle wollen nur noch deine Lieder hören.

Auf diese Weise ist "Epitaphios" zu einem der wichtigsten Werke in der griechischen Musik geworden. Zum ersten Mal hat ein griechischer Komponist hohe Lyrik mit volkstümlicher Musik und mit der "Landstreicher- und Kneipen"-Musik des Rembetiko verbunden. Damit hat Theodorakis den Grundstein gelegt zur griechischen Musik, wie wir sie heute kennen.

Ein paar Jahre später putscht das Militär. Wieder wird der "Epitaphios" verboten, Yannis Ritsos unter Hausarrest gestellt, Theodorakis verhaftet, gefoltert und verbannt im eigenen Land. "Mein Sohn", singt die alte Mutter im "Epitaphios", "alle Dinge sind verschwunden und haben mich hier zurückgelassen. Ich habe keine Augen und kann nicht sehen. Und ich habe keinen Mund mehr, um zu sprechen."


2