Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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27. Juni 1971 Polizeiruf 110 startet

Eigentlich hätte es im Sozialismus der DDR keine Verbrechen geben dürfen - rein parteitheoretisch. Allerdings gab es sie. Nicht nur im realen Leben, auch in einer Fernsehserie wie "Polizeiruf 110". In der mussten die Fälle jedoch auch parteipolitisch und - theoretisch angepasst werden. Autor: Thomas Grasberger

Stand: 27.06.2022 | Archiv

27 Juni

Montag, 27. Juni 2022

Autor(in): Thomas Grasberger

Sprecher(in): Johannes Hitzelberger

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Es ist eine besondere Kunst, Probleme zu bekämpfen, die es doch eigentlich gar nicht gibt. Mord und Totschlag im Sozialismus zum Beispiel. Oder Langeweile im Fernsehen. Beginnen wir mit der Kriminalität in der DDR. Sie galt "als dem Sozialismus wesensfremd". Klar, warum sollte auch jemand Böses tun, wo er doch im Arbeiter- und Bauern-Paradies leben durfte? Oder zumindest im eingezäunten Vorgärtchen. Dort konnte doch nun wirklich keiner auf den dummen Gedanken kommen, braven Genossen nach dem Leben zu trachten. Und wenn doch? Dann war´s ein böser Klassenfeind, ein Relikt bürgerlich-kapitalistischer Unmoral!

So nicht!

Um solche Irrläufer kümmerten sich die wackeren Ermittler in den Morduntersuchungskommissionen der Kriminalpolizei, kurz MUK. Diesen bestens ausgebildeten und erfahrenen Kriminalisten gelang oft eine rasche Aufklärung der Fälle. Trotzdem blieb der unangenehme Beigeschmack, dass es Gewaltverbrechen ja gar nicht geben durfte. Weshalb im Statistischen Jahrbuch der DDR seit 1971 keine Zahlen über Morde mehr veröffentlicht wurden. Nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf!

Haben wir nicht. Gibt es nicht.


Womit wir bei der "Langeweile im Fernsehen" wären. Auch sie ist undenkbar - eigentlich! Schließlich ist Fernsehen ja die Parade-Erfindung schlechthin gegen das Aufkommen von Langeweile. Und doch soll es schon vorgekommen sein, dass Menschen vor ihrem Gerät eingeschlafen sind. Erich Honecker zum Beispiel. Der war abends oft recht müde vom vielen Regieren und Intrigieren.
Honecker hatte 1971 seinen Ziehvater Walter Ulbricht abgesägt und musste nun als führender DDR-Kopf die wirtschaftlichen Probleme bekämpfen. Mehr soziale Wohltaten - lautete die Devise auf dem 8. Parteitag der SED 1971.

Zum propagierten "Konsumsozialismus" gehörten auch Lockerungen in der Kulturpolitik. Und der "Kampf gegen die Langeweile im DDR-Fernsehen", den Honecker höchstpersönlich ausgerufen hatte. Schließlich sollte der Ost-Bürger ja nicht ständig in die West-Röhre glotzen. Zumal in der ARD seit kurzem am Sonntagabend der "Tatort" lief, höchst erfolgreich, beim Publikum hüben wie drüben. Die DDR brauchte also schleunigst eine Fernseh-Alternative und erfand die Krimireihe "Polizeiruf 110".

Bei der Auswahl der TV-Delikte halfen übrigens freundliche Fachberater des DDR- Innenministeriums und der Volkspolizei. Und so kam es, dass in der ersten Polizeiruf-Folge, ausgestrahlt am 27. Juni 1971, kein Mord zu sehen war, sondern "nur" ein Postraub mit schwerer Körperverletzung: "Der Fall Lisa Murnau" - unter der Regie von Helmut Krätzig, mit Peter Borgelt als Oberleutnant Peter Fuchs und Sigrid Göhler als Leutnant Vera Arndt, der ersten TV-Kommissarin im deutschen Fernsehen. Action gab´s damals selten im Polizeiruf 110, dafür viele Dialoge. Und zwischen den Zeilen so manche Kritik an den Verhältnissen im real existierenden Sozialismus. Was wohl erheblich zum Erfolg der Krimireihe beitrug. 144 Folgen lang hielt sie sich, bis zum Ende der DDR. Und darüber hinaus - gesamtdeutsch bis heute. Inklusive Mord und Totschlag, versteht sich.


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