Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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2. Juni 1905 Bericht über lebende Kristalle

Computer führen manchmal ein Eigenleben. Vielleicht sind daran ja die Flüssig-Kristalle in den Bildschirmen schuld? Kristalle leben nämlich, erklärte am 2. Juni 1905 der Naturforscher Otto Lehmann. Lehmanns Entdeckung inspiriert den Arzt Ernst Haeckel zu seinem Werk "Kristallseelen". Autor: Hellmuth Nordwig

Stand: 02.06.2023 | Archiv

02 Juni

Freitag, 02. Juni 2023

Autor(in): Hellmuth Nordwig

Sprecher(in): Ilse Neubauer

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Kaum jemand ist unerträglicher als der Kollege, der einem das Leben schwer macht. Auch die Wissenschaft bildet da keine Ausnahme - von wegen akademische Würde. Da präsentiert etwa der Naturforscher Otto Lehmann seinen Fachkollegen am 2. Juni 1905 eine Sensation: lebende Kristalle. Ein Vierteljahrhundert lang hatte Lehmann sich mit ihnen beschäftigt, dieses mögliche Bindeglied zwischen belebter und toter Materie bis in alle Einzelheiten untersucht. Und was ruft plötzlich dieser freche Frackträger aus der letzten Reihe: "Herr Kollege, fressen Ihre Kristalle schon?". Chemiker können manchmal echt ätzend sein.

Was ist tot, was lebendig?

Natürlich fressen sie. Kristalle ernähren sich von der Substanz, aus der sie selbst bestehen. Wenn es davon nur genug gibt, können sie zu stattlicher Größe heranwachsen. Das ist bei Rosenquarz und Kochsalz so, und bei den lebenden Kristallen nicht anders, entdeckt Otto Lehmann. Zum Beispiel bei solchen aus Cholesterin; die untersucht er unter einem selbst gebauten Mikroskop und beobachtet Erstaunliches: Wenn er Cholesterinkristalle vorsichtig erwärmt, sind sie plötzlich nicht mehr starr, sondern beginnen zu fließen - wie kleine Stäbchen, die mit einer Flüssigkeit gefüllt sind. Das erinnert Lehmann an Bakterien und andere lebende Einzeller, die Forscher in den Jahrzehnten zuvor unter dem Mikroskop entdeckt hatten. Mehr als hundert weitere Stoffe findet er, die sich so verhalten. Viele davon stammen, genau wie Cholesterin, aus der belebten Natur. All das berichtet Otto Lehmann an jenem Himmelfahrtstag den skeptischen Physikern und Chemikern.

Doch in diesem Vortrag sitzen nicht nur überhebliche Kleingeister. Einige Fachleute kommen ins Grübeln, denn schon länger treibt sie die Frage um: Gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem, was wir lebendig nennen, und toter Materie? Nein, sagt vor allem ein prominenter Naturforscher: der Jenaer Arzt Ernst Haeckel. Er sollte später verkünden: "Alle Substanz besitzt Leben".

Die Kristalle von Otto Lehmann hält er dabei für "höchst bedeutend". Begeistert trägt Haeckel weitere Anzeichen des Lebendigen zusammen: Die Gebilde fressen nicht nur, sie kopulieren auch - dabei fließen zwei lebende Kristalle zu einem neuen zusammen. Und werden sie verletzt, so heilt die Wunde von selbst. Haeckel ist überzeugt: Die Kristalle fühlen und haben einen Willen. Lehmanns Entdeckung inspiriert ihn zu seinem Werk "Kristallseelen", das 1917 erscheint.

"Lebende Kristalle" im Bildschirm

Zwei Jahre später stirbt Ernst Haeckel, und kurz darauf auch Otto Lehmann. Ob die flüssigen Kristalle leben oder nicht, das interessiert in den 1920er-Jahren plötzlich kaum jemanden mehr. Denn inzwischen hat sich gezeigt, dass der besondere Zustand zwischen fest und flüssig etwas damit zu tun hat, wie die Moleküle aufgebaut sind. Nur schade, resümiert einer der Experten, dass man mit diesen seltsamen Substanzen so gar nichts anfangen kann. Da sollte er sich allerdings gründlich täuschen: Heute stecken die "lebenden Kristalle" in fast allen Bildschirmen - zum Beispiel in denen von Smartphones oder Notebooks. Und es kann wohl niemand behaupten, dass diese Geräte nicht ab und zu ein Eigenleben führen.


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