Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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4. Juli 1862 Lewis Carroll erzählt zum ersten Mal "Alice im Wunderland"

Der verrückte Hutmacher, das Kaninchen mit der Uhr, die Herzkönigin – weltbekannte Protagonisten eines der wohl skurrilsten Kinderbücher: "Alice im Wunderland"… von einem genauso skurrilen Autor übrigens.

Stand: 04.07.2018 | Archiv

04 Juli

Mittwoch, 04. Juli 2018

Autor(in): Anja Mösing

Sprecher(in): Ilse Neubauer

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Lecker gefüllte Picknick-Körbe unter den Ruderbänken, drei vor Vergnügen quietschende kleine Mädchen, begleitet von zwei jungen Dozenten aus Oxford, die sich redlich bemühen, Ruderboot und Kinder in Schwung zu halten. Ihr Ziel, der Picknickplatz, ist noch weit entfernt, das Boot recht langsam und das Wetter warm. Dazu sieht es aus, als würde ihnen ein Gewitter drohen.           

Inspiration!

Kann in so einer Situation Literatur entstehen?

Offenbar!

Zumindest einmal war es so: Im Fall eines bis heute weltberühmten Buches. Seine Kern-Geschichte wurde im sommerlichen Trubel des 4. Juli 1862 erfunden: auf den Wellen der Isis, einem kleinen Nebenarm der Themse – wenn man denn den Tagebucheintragungen des Autors glauben will. Aber warum nicht? Charles Lutwige Dodgson war ein akribischer Tagebuchschreiber. Und noch vieles mehr! Bekannt ist er heute nur noch unter seinem Künstlernamen: Lewis Carroll.

Alice erzählen

Auf dem später berühmt gewordenen Boots-Ausflug war er aber vor allem eines: ein prächtiger Unterhalter für die drei kleinen Töchter seines College-Chefs: für Lorina, Edith und Alice. Um aufkommende Langeweile zu überbrücken, erfand er eine Geschichte mit der kleinen Alice als Kinder-Heldin. Seine drei Zuhörerinnen und sein Freund riefen ihm Stichworte zu, Szenen, die sie zusammen auf ihrem letzten Ausflug erlebt hatten. Zwar verwandelte der Erzähler die Mädchen und den Freund Ducksworth in seiner Geschichte in Tiere und erfand auch sonst allerhand verrücktes Zeug hinzu. Aber für die Mädchen war es so sehr "ihre Geschichte", dass Alice ihren erwachsenen Freund am Abend nach dem Ausflug bat, die Geschichte für sie aufzuschreiben. Noch auf der Heimfahrt hat er damit begonnen.

Zu dieser Zeit war Alice nicht nur die kleine Heldin seiner Stehgreifgeschichte, die als "Alice im Wunderland" weltberühmt wurde. Alice spielte im streng geregelten College-Leben des jungen Diakons und Mathematik-Dozenten auch sonst eine große Rolle.

In Gegenwart von Alice und ihren Schwestern muss der ansonsten extrem zurückhaltende junge Mann, der stark zum Stottern neigte und bei seinen Studenten als langweiliger Eigenbrötler galt, geradezu aufgeblüht sein. Carroll sei "der stillste und schüchternste ausgewachsene Mann" den er je getroffen habe, schrieb Mark Twain später über seinen Schriftsteller-Kollegen.

Dazu war Lewis Carroll so exzentrisch, wie man es sich für einen Engländer im viktorianischen Zeitalter nur vorstellen kann. Wie Schmetterlinge sammelte er sein Leben lang Freundschaften zu kleinen Mädchen und schrieb ihnen kauzige Briefe. Mit Einwilligung ihrer Mütter fotografierte er die Kinder in seinem Atelier, machte Porträt-, Kostüm- und Akt-Aufnahmen von ihnen.

Heute gäbe so ein Hobby einen ausgewachsenen Pädophilie-Skandal. Im puritanischen England ging es als Kunst im neuen Medium Photographie durch. Carroll bestand immer auf der Unschuld und Reinheit seiner Werke. Natürlich! Aber selbst seine sommerliche Bootsfahrt mit den drei kleinen Mädchen bekommt durch sie einen schalen Beigeschmack. Bei allem Respekt für seine bizarre "Alice im Wunderland".


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