Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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10. November 1871 Henry Stanley findet den verschollen geglaubten Livingstone

Henry Morton Stanley war Journalist und Afrikaforscher und wurde berühmt, indem er den verschollenen Missionar David Livingstone in Afrika aufspürte. Autorin: Julia Devlin

Stand: 10.11.2022 | Archiv

10 November

Donnerstag, 10. November 2022

Autor(in): Julia Devlin

Sprecher(in): Christian Baumann

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

"Dr Livingstone, I presume?" Dies ist einer der berühmtesten Sätze in der Geschichte des englischsprachigen Journalismus, und einer der berühmtesten Sätze, die so nie gesagt wurden. Gesprochen haben will ihn Henry Morton Stanley, der amerikanische Journalist und Afrikaforscher. Der Satz wurde zu einer Legende und gehörte zu den vielen Legenden, die Stanley um sich strickte.

Mythen und Legenden

Es begann schon damit, dass Henry Morton Stanley gar nicht Henry Morton Stanley hieß. Eigentlich hieß er John Rowlands. 1841 in Wales geboren, die Mutter ein Dienstmädchen, der Vater unbekannt, wuchs er im Armenhaus auf. Als junger Mann heuerte er auf einem Schiff an und gelangte so in die USA. Dort erfand er einen Adoptivvater, nahm einen neuen Namen, einen neuen Beruf, eine neue Identität an: Aus dem walisischen Bankert John Rowlands wurde der erfolgreiche amerikanische Journalist Henry Morton Stanley.

Und dann wurde er auch noch Afrikaforscher. Auf der Jagd nach einer schlagzeilenmachenden Geschichte schickte ihn der Verleger des New York Herald nach Afrika, um David Livingstone zu finden. Livingstone war ein schottischer Missionar, Afrikaforscher und Kämpfer gegen den Sklavenhandel. Von ihm hatte es seit drei Jahren es kein Lebenszeichen gegeben. Was für ein genialer publicity-Streich wäre es, vermelden zu können, den verschollen geglaubten Livingstone in Afrika aufgespürt zu haben.

Die wochenlange Expedition führte von der Küste Ostafrikas bis zum Tanganyikasee.
Dort fand Stanley am 10. November 1871 den stark gealterten, abgemagerten und kranken Livingstone. Er schritt auf ihn zu, lüpfte seinen Tropenhelm und sprach: "Dr. Livingstone, I presume?"

Sehr wahrscheinlich hat Stanley bei der Begegnung etwas weniger einprägsames, aber menschlicheres gesagt. Doch er wollte das lakonische Understatement der britischen upper class nachahmen, wollte als gentleman erscheinen, die berühmte stiff upper lipp zeigen, als er in seinem Erlebnisbericht die Begegnung so beschrieb.

Leider uncool

Aber boy, flog ihm dieser Satz um die Ohren. Wie lächerlich, diese Parodie vornehmer Salonmanieren im Busch! Gerade die, zu denen er gehören wollte, deren Respekt er erringen wollte, fielen über den Außenseiter her. Stanley wusste, dass er sich blamiert hatte. Aber der Satz war schon in zu vielen Zeitungsartikeln erschienen, er war nun in der Welt.

Trotzdem, die erfolgreiche Mission veränderte das Leben von Stanley. Er wurde als Afrikaforscher anerkannt und mit weiteren Forschungsmissionen beauftragt, wobei er unwillentlich zur Vorhut von König Leopolds grausamer Ausbeutung des Kongo wurde.

Doch was vor allem von Henry Morton Stanley im kollektiven Gedächtnis hängen geblieben ist, ist dieser Satz, in dem der Wunsch eines verunsicherten Außenseiters herausklingt, in der besseren Gesellschaft dazuzugehören. Oft wirkt man leider am wenigsten cool, wenn man es am meisten versucht.


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