Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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22. November 1983 Helmut Schmidt bastelt im Bundestag Papierflieger

Ausgebotet, entmachtet, aber doch noch dabei, wenn auch nur mehr in der zweiten Reihe: Eingefädelt hatte Helmut Schmidt den NATO-Doppelbeschluss mit, nun setzen andere sein Werk um und reklamieren den Erfolg für sich. Also faltet der Ex-Kanzler mal eben einen Papierflieger. Autor: Simon Demmelhuber

Stand: 22.11.2021 | Archiv

22 November

Montag, 22. November 2021

Autor(in): Simon Demmelhuber

Sprecher(in): Caroline Ebner

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Schluss mit dem Irrsinn! Kein Atomkrieg in Europa, keine SS-20, keine Pershings. Weg mit dem NATO-Doppelbeschluss! Im heißen Herbst '83 brennen die Straßen. Nicht nur in Deutschland. Weltweit begehren Millionen mit Massendemos, Sitzblockaden, Menschen- und Lichterketten gegen das Wettrüsten der Großmächte auf.

Es reicht mit Krieg!

Die Angst vor einem nuklearen Weltuntergang ist Ende der 1970er plötzlich wieder akut. Völlig unerwartet stellt die Sowjetunion neue Mittelstreckenraketen auf. Jede der 650 Raketen vom Typ SS-20 ist achtzigmal stärker als eine Hiroshima-Bombe und erreicht Ziele in ganz Europa. Die Stationierung überrumpelt den Westen. Vor allem Helmut Schmidt, der deutsche Bundeskanzler, ist tief beunruhigt. Er bestürmt die NATO, mit den Sowjets entweder über eine Abschaffung des Waffensystems zu verhandeln oder die Verteidigungslücke rasch zu schließen.

NATO-Doppelbeschluss

Noch im Dezember 1979 fasst das Verteidigungsbündnis einen Beschluss, der das Angebot zur Abrüstung mit einer Nachrüstungsdrohung koppelt: Die NATO wird ihr Atomarsenal Cruise Missile-Marschflugkörper und Pershing II-Raketen aufstocken, allerdings erst in vier Jahren und nur dann, wenn Gespräche über einen bilateralen Rüstungsabbau gescheitert sind.

Im Herbst 1983 ist die Frist ergebnislos abgelaufen. Nun muss der Bundestag über die Stationierung entscheiden. Helmut Schmidt, der den Doppelbeschluss führend vorangetrieben hat, ist da schon nicht mehr Kanzler. Ein Misstrauensvotum hat Helmut Kohl ans Ruder gebracht und Schmidt entmachtet.

Bitter genug. Obendrein lassen ihn die Genossen, allen voran Willy Brandt und Herbert Wehner, jetzt scharenweise im Stich. Erst vor zwei Tagen hat ein Sonderparteitag die Nachrüstung klar abgeschmettert.

Heute gilt es. Dieser 22. November 1983 ist ein historischer Tag. Heute wird dieser Kohl vollenden, was er, Helmut Schmidt, Jahre lang gegen wachsende Widerstände und Anfeindungen aufgebaut hat.

Gleich tritt Brandt ans Rednerpult. Schmidt weiß, was der SPD-Chef sagen wird. Er kennt das Manuskript, es liegt vor ihm auf der Abgeordnetenbank, ein dünner Stoß Papier. Nimm ein Blatt! Einmal längs falten. Wieder aufklappen. Falz nachstreichen. Da macht einer Fotos. Egal. Nicht hinsehen. Vor allem: bloß nicht wichtig gucken. Mach ein gleichgültiges Gesicht. Als ginge dich der Zirkus nichts mehr an. Tut er auch nicht. Ich bin raus. Weiterfalten. Ganz locker. Fehlt nur noch die Nase. Da noch knicken, Kanten glätten. Fertig! Fühlt sich gut an in der leicht vorgestreckten Hand.

Und dann lässt der oft so herrische, kaltschnäuzig-schneidige Macher einfach los. Ein leichter Stoß, ein entsagendes, hingekleckst elegantes Adieu aus dem Handgelenk. Der Flieger hebt ab, spitzt auf Willy zu, legt sich weich in die Kurve, kippt ab, landet im Mittelgang.

"Das war völlig gedankenlos", kommentiert Schmidt die Luftnummer später, "ganz ohne Absicht". Könnte man so kaufen. Wäre da nicht ein Geständnis an anderer Stelle: "Ich habe im Lauf des Lebens schauspielerische Fähigkeiten entfaltet, und manchmal eine ganz schöne Schau abgezogen."


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