Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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17. März 1816 Das erste Dampfschiff überquert den Ärmelkanal

Manchmal muss es eben Rum sein. Zumindest wenn es darum geht, die marode Besatzung dazu zu bewegen, doch noch die erste Überquerung des Ärmelkanals per Dampfschiff durchzustehen. Denn so richtig wollten die Männer an Bord nicht mehr daran glauben, mit dem schnaubenden Gefährt lebend Land zu erreichen. Autor: Herbert Becker

Stand: 17.03.2023 | Archiv

17 März

Freitag, 17. März 2023

Autor(in): Herbert Becker

Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Matrosen spinnen gerne Seemannsgarn. Das weiß man. Aber dass an Bord der Élise ein Klabautermann sein Unwesen getrieben habe, das hat keiner behauptet. Es hat auch niemand etwas von einem Seeungeheuer erzählt, das dem Schiff begegnet sei; nichts von einem Magnetberg und nichts von einer Riesenwelle. Und dennoch verging die Mannschaft beinahe vor Angst. Sie hatte einfach kein Vertrauen in den Pott. Und als die Élise auch noch in einen schweren Sturm geriet, der Ofen in der Kapitänskajüte umkippte und das Schiff in Brand zu geraten drohte, da lagen die Nerven blank. Und nicht nur die Männer auf der Élise hatten Angst: Ein französischer Lotsen-Kutter, der ihr zu Hilfe kommen wollte, drehte, als seine Besatzung das rauchende und fauchende Ungeheuer aus der Nähe sah, wieder ab und suchte das Weite.

Die ersten Räder drehen sich

Das Rauchen und Fauchen, vor dem die französischen Seeleute so erschraken, hatte nichts mit dem umgekippten Ofen zu tun, sondern damit, dass es sich bei der Élise um einen Raddampfer handelte - und einen solchen hatten sie noch nie gesehen. Das Zeitalter der Dampfmaschine war gerade erst angebrochen, und zumal auf hoher See war ihr Einsatz noch ganz und gar ungewöhnlich. Auch die Élise hatte bis dahin nur ruhigere Gewässer befahren; als Postschiff war sie zuerst auf dem River Clyde in Schottland unterwegs gewesen, danach auf der Themse. Doch dann hatte eine in Paris ansässige Gesellschaft sie gekauft, um sie als Passagierschiff einzusetzen. Als Passagierschiff! Die Élise war weniger als zwanzig Meter lang und wurde von einer sage und schreibe zehn PS starken Maschine angetrieben. Heute, wo Kreuzfahrtschiffe mit mehreren Tausend Passagieren die Meere befahren ... nein, Entschuldigung, das ist eine andere Geschichte.

Außerdem sollte die Élise auch keine Ozeane überqueren, sondern sie sollte die Seine auf und ab schippern. Immerhin: die Seine fließt durch Frankreich, und das liegt nun einmal auf der anderen Seite des Kanals.

Vom River Clyde gen Seine

Am 17. März 1816 also stach der Dampfer von Newhaven in Südengland aus in See und nahm Kurs auf Le Havre. Da aber kam, mitten in der Nacht, der besagte Sturm auf. Die Matrosen gerieten in Panik; sie wollten umkehren und nach England zurückfahren. Um sie zum Kurshalten zu zwingen, baute sich der neue Eigner mit geladenem Gewehr vor ihnen auf. Es half nichts. Die Matrosen, die sich ohnehin dem Untergang geweiht sahen, gehorchten ihm nicht. Da setzte er - als letztes Mittel - eine Belohnung von drei Flaschen Rum aus, für denjenigen, der als erster die französische Küste sehen würde. Und tatsächlich: nach siebzehn Stunden auf See erreichte die Élise Le Havre. Als erstes Dampfschiff hatte sie den Ärmelkanal überquert.

Wenn die Angehörigen der Mannschaft später von dem überschwänglichen Jubel berichteten, mit dem sie empfangen wurden, wenn sie wieder und wieder erzählten, dass die Fahrt Seine-aufwärts nach Paris ein einziger Triumphzug war, dann logen sie nicht. Die Geschichte mit den drei Flaschen Rum allerdings ... nun, die klingt tatsächlich stark nach Seemannsgarn.


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