Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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10. November 1867 Erster Reclam-Band kommt auf den Markt

Als das Urheberrecht für alle deutschen Autoren fällt, die mindestens 30 Jahre lang tot waren, ist das der Start für den Leipziger Verleger Anton Philipp Reclam und den ersten Band seiner Universalbibliothek. Schüler müssen in den kommenden Jahrhunderten stapelweise gelbe Hefte lesen. Autorin: Prisca Straub

Stand: 10.11.2021 | Archiv

10 November

Mittwoch, 10. November 2021

Autor(in): Prisca Straub

Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Wer von der "Gelben Gefahr" spricht, der meint zu wissen, woher der Wind weht. Und zwar - je nach Zusammenhang - entweder von den asiatischen Völkern, insbesondere den Chinesen, oder von den Ballspielern Borussia Dortmunds - gut erkennbar an ihren knallgelben Vereins-Trikots. Sprechen jedoch Schüler von "Gelber Gefahr", meinen sie weder das eine noch das andere. Für sie lauert die Bedrohung ganz woanders: Sie misst exakt 9,6 mal 14,8 Zentimeter und klemmt Rücken an Rücken im Bücherregal.

Die Rede ist von den kleinen Heftchen der Reclam-Universalbibliothek. Kein Schüler, der den gelben Lesestoff nicht irgendwann mal in Händen gehalten hätte – manch einer schlägt das Bändchen sogar auf. Es wiegt so gut wie nichts und ist schon ab wenigen Euros zu haben. Doch hinter dem unscheinbaren Äußeren verbirgt sich ein reiches Innenleben: literarische Spitzenqualität zu Niedrig-Preisen. Mit Gelb wird man hierzulande erwachsen. Ob man will oder nicht.

"Faust" macht den Anfang

Die Welt für die Westentasche. Hinter dieser Idee steckt nicht nur System, sondern auch eine unternehmerische Großtat: Der Leipziger Verleger Anton Philipp Reclam lauerte nämlich auf einen ganz speziellen Zeitpunkt: auf das Datum, an dem die Urheberrechte aller deutscher Autoren frei werden sollten, die mindestens 30 Jahre lang tot waren. Bisher war die Verbreitung von Klassikerfürsten durch satte Tantiemen enorm erschwert worden. Nun aber sollte das Volk seine Literatur sozusagen zurückbekommen - zum Spottpreis von 20 Pfennig pro Ausgabe. Am 10. November 1867 war es dann soweit: Goethes "Faust" machte den Anfang. Es folgten Lessings "Nathan der Weise" sowie Shakespeares "Romeo und Julia". Die Hitparade der Weltliteratur in einem unverwechselbaren, schlichten Gewand. Reclams Universal-Bibliothek war geboren.

Das kleine Format erweist sich vom ersten Tag an als überaus erfolgreich: Der "Faust" muss mehrfach nachgedruckt werden und erreicht innerhalb von nur zwei Monaten eine Auflage von 20.000 Exemplaren. Doch auch weniger tragische Kost wird ins Programm aufgenommen: Der Verleger bringt ganz bewusst nicht nur klassische, sondern auch "allgemein beliebte Werke" auf den Markt. Bildung und Unterhaltung, lautet das Motto - Mischkalkulation nennt sich das heute. Und es funktioniert so gut, dass das erste halbe Jahrhundert ohne eine Preiserhöhung verstreicht.

"Kotz von Brechlingen"

Bis heute haben Anton Philipp Reclam und seine Nachfolger das Heftchen nicht mehr aus der Hand gegeben: Drei Viertel seines Umsatzes macht das Haus mit der Universal-Bibliothek, die inzwischen auf mehr als 20.000 Titel angewachsen ist. Und noch immer sieht so ein Reclam-Heft weder besonders aufregend, noch besonders modern aus. Doch warum sich trendig geben, wenn man es mit einem stabilen Markt zu tun hat: Zum wichtigsten Kundenkreis gehören nach wie vor Schüler. Dennoch: Die klassisch gelbe Reihe wurde in den vergangenen Jahren mit günstigem Lesestoff in Rot, Orange, Grün, Blau und Magenta optisch aufgefrischt. Wobei weiterhin gilt: Die Heftchen sind zwar nicht immer leicht zu lesen, doch dank des meist bildfreien Umschlags prima zu verunstalten.


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