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15. Juli 1955 Erste documenta in Kassel eröffnet

Heute steht die documenta in Kassel für Trends. Es darf und soll anders sein, gerne wild und bislang noch nicht gesehen. Zu Beginn stand vor allem die Frage: Welche Kunst kommt nach der NS-Zeit? Autorin: Justina Schreiber

Stand: 15.07.2020 | Archiv

15 Juli

Mittwoch, 15. Juli 2020

Autor(in): Justina Schreiber

Sprecher(in): Ilse Neubauer

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Verglichen mit einem Herren-Bademantel wirkt ein Herren-Anzug beruhigend korrekt. Er scheint aus seinen Trägern brave Büro-Hengste zu machen, die nichts als Zahlen und Tabellen, kurz: Arbeit im Sinn haben. Diese Herren schlagen ganz sicher nicht über die Stränge, verspricht die nüchterne Fassade. Insofern ist es schon verständlich, dass sich der graue Anzug zu der zivilen Uniform der frühen Bundesrepublik mauserte. Ob Politiker, Pensionär oder Student – alle trugen damals Anzug. Sogar die Künstler!! Das machte die erste documenta augenfällig, die am 15. Juli 1955 in Kassel ihre Tore öffnete. Wobei die erste umfassende Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland stattfand, durchaus unkonventionelle Töne anschlug.

Kunst oder Norm?

Das ausgebombte Kasseler Museum Fridericianum hatte eine provisorische Restaurierung erhalten, die den Ruinencharakter extra hervorhob. Eine Fotowand auf der Rückseite der Eingangshalle zeigte den ästhetisch verunsicherten Deutschen, welche Vertreter der Avantgarde ihre neuen Ikonen werden sollten. Hier hingen Fotos etwa der Maler Max Beckmann, Paul Klee oder Franz Marc – aber man hatte Bilder ausgewählt, die die Herren Künstler im Anzug zeigten, mit Schlips und Kragen! Eine Kleidung, wie sie auch der Bundespräsident Theodor Heuss trug, als er die 100-tägige Schau inspizierte. Oder an seiner Seite Arnold Bode, der Kasseler Künstler, der das spektakuläre Projekt geplant und designt hatte. Oder die zahlreichen Besucher dieser documenta I; die Damenwelt – logischerweise! - ausgenommen.

Die neue Ära heißt Anzug!

Damals präsentierte sich die männliche Bevölkerung einheitlich bürgerlich mit Sakko und passender Hose. Und die Botschaft war klar: Orden, Chargenabzeichen und anderer militärischer Schnickschnack gehörten der Vergangenheit an.

Auch der Chef-Theoretiker der ersten documenta, der Kunsthistoriker Werner Haftmann, hatte seine NSDAP- und SA-Abzeichen selbstverständlich in die hinterste Schublade verbannt, bevor er sich daran machte, seine Vorstellung von moderner Kunst für allgemeingültig zu erklären. In den 1950er Jahren fehlte offenkundig noch jegliches Verständnis dafür, dass und wie die Zeit des Nationalsozialismus in den Köpfen der neuen alten Elite nachwirken könnte. Auf den angeblich so weißen Westen gab es einige blinde Flecken. Da nützte es auch nichts, erklärtermaßen von den Nazis verfemte Künstler wie Max Beckmann, Paul Klee oder Franz Marc rehabilitieren zu wollen. Man entkam dem Verdrängen und Verleugnen nicht: Als eine Art Gegenausstellung zu der Schau "Entartete Kunst" von 1938 konzipiert, zeichnete die documenta I denn auch ein reduziertes, wenig komplexes Bild der internationalen Kunst der vergangenen 50 Jahre. Gegenständliche Darstellungen wie sie das Dritte Reich präferierte, gab es in Kassel kaum zu sehen.

In Abgrenzung setzte man hier vielmehr die klassische Moderne mit abstrakter Kunst gleich. Gemäß der Parole: endlich wieder Freiheit für die Form! Zwangsläufig gerieten deshalb Werke mit deutlich politischen oder sozialkritischen Bezügen aus dem Fokus. Hauptsache, die Fassade stimmte. Der nüchtern-graue Herrenanzug war tatsächlich die perfekte Metapher für die Zeit des Wiederaufbaus in Deutschland.


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