27. Oktober 1911 Erich Mühsam wird beim Spechteln ertappt
Der Schriftsteller Erich Mühsam war ein Anarchist und Antimilitarist. 1919 stand er in der ersten Reihe bei der Ausrufung der Münchner Räterepublik. Während seiner Zeit in der Schwabinger Bohème stand ihm der Sinn aber vor allem nach Liebschaften. Das hatte eine "saudumme G‘schicht" zu Folge. Autor: Simon Demmelhuber
27. Oktober
Mittwoch, 27. Oktober 2021
Autor(in): Simon Demmelhuber
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Es geht hoch her im Simpl, im Orlando, im Stefanie, im Bunten Vogel und bei Papa Benz. Nachts ist das Leben leichter; nur allein darf man nicht bleiben, nur still darf es nicht werden. In der Stille nistet die Angst. Also ziehen sie grell und zum Verzweifeln lustig jeden Abend durch die Kneipen und Künstlercafés. All die aufgekratzten Zug- und Paradiesvögel der Schwabinger Bohème, all die Vorschubfechter und Hungerleider, all die Flackernden und Ausgebrannten, all die Heiligen der besseren Zukunft - sie alle lachen laut, trinken viel und träumen bengalisch beleuchtet: Der Durchbruch kommt. Morgen, bald - ganz bestimmt.
Aber irgendwann ist das letzte Glas getrunken. Dann wartet sie schon und grinst sich eins: die Wirklichkeit schäbiger Pensionszimmer mit ihrem Mief nach ungewaschener Kleidung und drückenden Schulden, mit ihren schalen Reueschüben und Besserungsschwüren. Ab jetzt wird alles anders - ganz bestimmt.
Der Schwabinger Satyr
Mitten drin im Schwabinger Strudel irrlichtert einer, der ebenso an sich wie an den Zeitläuften leidet: der aus Berlin zugewanderte Dichter, Dramatiker, Kabarettist Erich Mühsam. Ein Anarchist und Bürgerschreck mit kohlschwarzem Haargewöll und Bartgestrüpp, ein Aufwiegler, der gegen Armee und Obrigkeit stänkert. Einer, den alle Rechtgläubigen lieber heut als morgen hinter Schloss und Riegel sähen.
So gewaltig wie sein Groll gegen die Machtelite, so unersättlich ist Mühsams Gusto auf erotische Extrakost. Egal, wie viele Liebschaften der dauerbalzende Satyr gerade köchelt, Appetit hat er immer. Und derzeit ganz arg auf Fräulein Justine Hell.
Die 17jährige Soubrette wohnt neuerdings in seiner Pension, Wand an Wand mit ihm, auf Tuchfühlung quasi. Doch wie sehr die Libido drückt, Mühsam macht keinen Stich, das Fräulein ist spröde. Und dann kommt dieser unselige Freitag, dieser verdammte 27. Oktober 1911. Er kehrt um 3 Uhr früh zurück vom Café Benz, hat ziemlich einen in der Krone, kriecht ins Bett, kippt weg, ist aber gleich wieder wach. Da knackt doch was! Draußen auf dem Gang! Er tappt im Hemd hinaus, die Tür der Nachbarin ist angelehnt, Licht säumt den lockenden Spalt. Ist das Angebot? Der Schein zieht ihn an, barfuß schleicht er näher, drückt leise, leise die Tür auf, beugt sich vor, linst ins Zimmer.
Saudumme G‘schicht
Einen Herzschlag lang hört er nur sein Blut rauschen, dann fährt ihm ein Geräusch scharf in den Rücken. Mühsam dreht sich um: da steht das Fräulein und sieht aus wie ein Raubvogel kurz vorm Zustoßen! Was er da sucht? "Zündhölzer, nur Zündhölzer". Da wiehert das Fräulein auf, schiebt ihn beiseite, knallt hinter sich die Tür ins Schloss - Rumms!
Den Rest der Nacht hat der ertappte Spechtler einen Mordsmoralischen. So eine hirnverbrannte, so eine saudumme G‘schicht: Wenn sie's den Zeitungen steckt! Wenn sie ihn anzeigt, die Polizei auf ihn hetzt! Was tun? Beichten, betteln, Geld anbieten? Aber Mühsam greint ohne Not. Das Fräulein hält still, nichts passiert. Nochmal gutgegangen.
13 Jahre später, im Juli 1934, wird der Dichter, Pazifist und Menschenfreund Erich Mühsam im KZ Oranienburg von SS-Schlägern totgeprügelt.