Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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2. Februar 1821 Eine Drehorgel vertreibt Lord Byrons Weltschmerz

Weltschmerz: Das ist die Identität von Lord Byron. Doch selbst er kann der Macht der Musik nicht widerstehen. Autor: Simon Demmelhuber

Stand: 02.02.2021 | Archiv

02 Februar

Dienstag, 02. Februar 2021

Autor(in): Simon Demmelhuber

Sprecher(in): Krista Posch

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Es wird immer noch hell, jeden Tag. Tag für Tag geht die Sonne auf. Aber er hat keinen Anteil daran. Das Licht erreicht ihn nicht. Es bleibt dunkel in ihm, auch mit offenen Augen. War es je anders? Er knautscht das Kissen, wälzt sich, knüllt das Plumeau, aber an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Solange er liegt, hat sein Dämon leichtes Spiel. Besser aufstehen, arbeiten, schreiben. George Gordon Lord Byron fröstelt. Ravenna ist kalt, feucht und windig. Er legt sich eine Decke um, setzt sich, schlägt das Tagebuch auf, tunkt die Feder ein, kratzt: Freitag, 2. Februar 1821.

Weltschmerz!

Die feuchte Tinte glänzt wie schwarzes Blut. Wie sein Blut, das zäh und kalt in den Adern stockt. 33 ist er vor elf Tagen geworden. Kein Alter eigentlich. Doch der berühmteste Dichter Europas, das größte Talent des Jahrhunderts, fühlt sich ausgebrannt, ausgeglüht, erloschen. Das ist jetzt Mode. Das Gefühl haben jetzt alle. Weil seine Verse es erfunden haben. Weil sich jedes junge Genie darin erkannt, verstanden, ganz und gar ausgedrückt wähnt. Man ist melancholisch wie Byron, zerrissen, einsam, zerquält wie Byron, enttäuscht von Liebe und Kunst, gepeinigt vom Abgeschmackten und Schalen einer sinnlosen Existenz.

Weltschmerz als Pose! Daseinsekel als Kult! Alle spielen Lord Byron. Aber er, er zum Teufel, er ist Byron, er muss dieses wüste Tier leben, das sich von innen her auffrisst und immer kälter wird. Selbst die kurzen Fieberschübe der Lust wärmen nicht mehr. Was ist von all den Exzessen, all den Ausschweifungen mit Geliebten beiderlei Geschlechts geblieben? Kaum mehr als ein pelziger Katergeschmack im Mund und die Flucht ins Exil. England hat ihn ausgespuckt, damals vor fünf Jahren, als das Gerede von Inzest, Homosexualität und Ehebruch zu laut und zu gefährlich wurde.

Erst die Schweiz, dann Venedig, und jetzt also Ravenna. Er ist so müde, so müde. Zu müde sogar, um sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Aber irgendwann, er weiß es, saugt ihn der schwarze Abgrund ein, an dessen Rand er immer schon kauert. Irgendwann erträgt er es nicht mehr, tot geboren zu sein und nicht sterben zu können.

Die Macht der Musik

Die Feder kratzt. Aber das ist es nicht, was jetzt in seinen Ohren nach oben taucht. Da ist noch etwas, es kommt von draußen, von unten. Ein Leiermann spielt. Ein abgedroschener, abgenudelter Allerweltswalzer steigt herauf, eine simple, einfältige Springfigur, mehr nicht. Es zieht ihn zum Fenster. Er kühlt die Stirn an der Scheibe, merkt erst nicht, wie seine Finger den Rhythmus aufs Fensterkreuz klopfen, merkt allmählich, wie seine Hüfte den Takt aufnimmt - eins, zwei, drei, eins, zwei, drei!

Dann platzt ein schallendes Lachen auf: Ausgerechnet ihn, dem der Satan einen Klumpfuß in die Wiege geflucht hat, ausgerechnet ihn packt, dreht und wirbelt dieser Walzer unwillig erst, dann immer ausgelassener, toller ins Leichte und Helle. Und einen selbstvergessenen, taumelnden Augenblick lang ist alles Finstere, Schwere aufgehoben, gelöst in ein selig stolperndes Dreh-dich-rum, Tanz-mit-mir, Hüpf-im-Takt. Wahrlich: Musik ist eine seltsame Sache!


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