Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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21. Dezember 1954 Der Weltuntergang fällt aus

Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Sozialpsychologie verdanken wir dem Ausbleiben von Außerirdischen. Aliens halten Verabredungen offenbar nicht immer ein. Das brachte den Sozialpsychologen Leon Festinger auf eine brillante Idee. Autorin: Prisca Straub

Stand: 21.12.2020 | Archiv

21 Dezember

Montag, 21. Dezember 2020

Autor(in): Prisca Straub

Sprecher(in): Krista Posch

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Die Aliens sind sehr präzise mit dem Datum für den Weltuntergang: Am 21. Dezember 1954, Punkt Mitternacht, wird eine alles vernichtende Flut über die Erde hereinbrechen. Das jedenfalls hat Dorothy Martin aus Chicago erfahren. Sie steht im telepathischen Austausch mit der extraterrestrischen Lebensform und prophezeit: Ufos werden eintreffen und sie und ihre kleine Sekte, die "Seekers", vor dem Untergang retten. Jetzt heißt es also, gut vorbereitet zu sein für die bevorstehende Reise mit der fliegenden Untertasse.

Rettung durch Ufos

Die Botschaft aus dem All spricht sich herum. Auch Leon Festinger, ein 35-jähiger Psychologe von der University of Minnesota, bekommt Wind von der intergalaktischen Verabredung. Er beschließt, die Sekte der Untergangspropheten mit einigen seiner Mitarbeiter zu unterwandern: Wie werden die "Seekers" wohl reagieren, wenn kein Raumschiff eintrifft?

Dann - die Nacht, in der die apokalyptische Frist abläuft. Im Wohnzimmer von Dorothy Martin versammeln sich "Seekers" und Undercover-Psychologen - den Himmel durch das offene Fenster fest im Blick. Einige Ufo-Gläubige haben ihre Jobs gekündigt, ihre Häuser verkauft, sie haben Reißverschlüsse und Ösen aus Hosen und BHs entfernt. Metall könnte die unbekannte Spezies vom Weg abbringen. - Die Nacht ist kalt und sternenklar. Doch als die Sonne schließlich aufgeht, hat sich keine außerirdische Intelligenz blicken lassen.

Gescheiterte Untergangspropheten

Ein Fehlschlag für die Erdlinge aus Chicago? Oder wenigstens Grund genug, von ihrem Glauben abzufallen? Keineswegs: Nach kurzem Entsetzen deuten die "Seekers" ihr Scheitern einfach um - in eine Heldengeschichte: Ihr unerschütterlicher Glaube an die Prophezeiung habe die Welt vor dem Untergang gerettet, so ihre erstaunliche Neu-Interpretation. Voller Stolz missionieren sie jetzt eifriger denn je.

Völlig irre? Nein, gar nicht, sondern sogar: - typisch menschlich! Für Leon Festinger wird die elegante Anpassungsstrategie der sitzengelassenen Ufo-Anhänger zur Grundlage einer bahnbrechend neuen Idee. Er nennt sie "Theorie der Kognitiven Dissonanz" und meint damit: Wenn feste Überzeugungen in Widerspruch zur Realität geraten, sind Menschen in der Lage, höchst sonderbare gedankliche Verrenkungen anzustellen, um Selbstbild und Fakten wieder miteinander zu versöhnen. Erst, wenn alles stimmig erscheint, kann das Gehirn zurück in den Wohlfühl-Modus schalten. In den folgen Jahren überprüft Festinger seine Hypothese mit einer ganzen Reihe verblüffender Labor-Experimente zu Selbstbetrug und Selbstberuhigung. Heute Meilensteine in der Sozialpsychologie.

Und Dorothy Martin, die Sekten-Gründerin? Zeitlebens hat sie sich nicht geschlagen gegeben. Bis zu ihrem Tod mit 92 Jahren war sie als Prophetin in Ufo-Kulten aktiv. Denn so viel stand für sie fest: Wir wissen nicht, was die Außerirdischen planen. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Mit ihrer eigenen Mitfahrgelegenheit ins All hat es allerdings - jedenfalls dem Anschein nach - dann doch nicht mehr geklappt.


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