Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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30. Juni 1990 Der Tränenpalast in Ost-Berlin wird geschlossen

"Tränenpalast" nannte der Berliner Volksmund die ehemalige Ausreisehalle der Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße in Ost-Berlin. Denn hier mussten die Bürger der DDR ihre Besucher aus dem Westen unter Tränen verabschieden. Nach der Wiedervereinigung würde das Gebäude schließlich Museum. Autor: Hartmut E. Lange

Stand: 30.06.2021 | Archiv

30 Juni

Mittwoch, 30. Juni 2021

Autor(in): Hartmut E. Lange

Sprecher(in): Johannes Hitzelberger

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Tränenpalast! Was ist das denn? Finstere Location in einem Schauer-Märchen? Die Antwort findet man in der Hauptstadt.   

Mit dem Verleih blumiger Spitznamen an Gebäude und Kunst im öffentlichen Raum ist der Berliner schnell dabei. Kaum eröffnet, schon wird der neuen Kongresshalle im Herbst 1957 ein Spitznamen verpasst. Wegen der geschwungenen Form, die an Muscheln erinnert, wird das Geschenk der Amerikaner an West-Berlin Schwangere Auster genannt.

Nicht weit entfernt ragt die Siegessäule 67 Meter in die Berliner Luft. Keiner nennt den krönenden Engel on top Viktoria, das wäre ja zu einfach - dort oben schwebt natürlich: die Gold-Else. Und das phantasievolle Wasserspiel am Breitscheidplatz heißt nicht Weltkugel-Brunnen, wie vom Senat getauft. Nein, der Volksmund nennt es Wasserklops.

Und im Ostteil der Stadt gibt es jenen Tränenpalast - so wird das Nadelöhr nach West-Berlin genannt, die Ausreisehalle am Bahnhof Friedrichstraße.

Aber Palast? Also bitte! Ein Palast sieht ja wohl anders aus! Da irrt der Volksmund.

Über Nacht zum Grenzbahnhof

Durch den Bau der Mauer im August 1961 wird der Bahnhof im Zentrum Berlins über Nacht zur Grenzstation. Doch dafür bietet das Gebäude nicht genügend Platz, ein Anbau muss schleunigst her. Schon ein Jahr später wird die neue Abfertigungshalle in Betrieb genommen. Geprägt vom architektonischen Zeitgeist, ist der Flachbau aus Stahl, Glas und Beton gestalterisch durchaus en vogue. Doch als Erweiterung eines Gebäudes aus dem 19. Jahrhundert wirkt der schlichte Kasten wie ein Fremdkörper. 

Tränen fließen nicht drinnen, sondern draußen vor der Tür.

Hier müssen sich Ostdeutsche von ihren Angehörigen und Freunden aus dem Westen verabschieden – in dem Bewusstsein, diesen Weg selbst nie gehen zu können. Hier spielen sich Szenen ab, die zu der traurigen Namensgebung führen: Menschen, in inniger Umarmung, oft mit Tränen im Gesicht. 

Nach dem Fall der Mauer wird das Gebäude obsolet, doch die Grenzer machen noch ein halbes Jahr Dienst nach Vorschrift. Dann endlich, am 30. Juni 1990, wird der Tränenpalast geschlossen.

Nichts wie weg mit dem Kasten, rufen Spekulanten, die scharf auf das frei werdende Filetstück sind. Doch Abreißen geht nicht. Die letzte DDR-Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière hat kurz vor Toresschluss einige, für die Geschichte der DDR wichtige Gebäude, unter Denkmalschutz gestellt. Auch den Tränenpalast.

Vom Tränen- zum Tanzpalast

Die Halle wird Event-Location, wandelt sich zum Ort ausgelassener Freude. Viele junge Disco-Besucher wissen gar nicht, in welch geschichtsträchtigem Gemäuer sie gerade abrocken.

2011 wieder eine Metamorphose: der Tränenpalast wird zum Museum. Die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eröffnet die Ausstellung Grenzerfahrungen. Man rekonstruiert die Abfertigungshalle mit Originalteilen aus der DDR-Zeit, und präsentiert jüngste deutsche Geschichte nach modernem, multimedialem Konzept. In Berlin gibt es etliche Orte, die an die deutsche Teilung erinnern. Besonders beeindruckend ist aber - ähnlich dem 200 Meter langen Mauerstück in der Bernauer Straße - der Tränenpalst am Bahnhof Friedrichstraße.


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