Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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15. Juni 1883 Der deutsche Reichstag macht Krankenversicherung zu Pflichtversicherung

Deutschland hat das weltweit älteste soziale Krankenversicherungssystem. Seine Gründung geht zurück auf Otto von Bismarck. Autor: Christian Jungwirth

Stand: 15.06.2020 | Archiv

15 Juni

Montag, 15. Juni 2020

Autor(in): Christian Jungwirth

Sprecher(in): Johannes Hitzelberger

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

"Ich schreibe meinen Namen unter kein Gesetz, welches eine Belastung des Arbeiters enthält." Zitat Ende. Darauf ein lecker Fischbrötchen. Obwohl: um diesen Happen gleichen Namens war´s dem greisen Otto von Bismarck sicher nicht, als auf sein Betreiben hin am 15. Juni 1883 der Deutsche Reichstag per Gesetz die Krankenversicherung in Deutschland zu einer Pflichtversicherung macht. Bismarck, dem noch an Bord weilenden Lotsen des Kaiserreichs, war es vielmehr wichtig, eine politisch gut sichtbare Signalpistole abzufeuern.

Bis der Arzt kommt

Wer arbeitet und krank ist, darf auch krank sein – und soll sich um Arztkosten sowie sein täglich Brot keine Gedanken machen müssen. Ja, wie heftig hatte die Industrialisierung das schwer arbeitende Volk bereits geschunden und ausgelaugt. Lungensucht, Staubsucht, Rheuma, Hörstürze, Allergien und, und, und. Viel Arbeit machte damals schon krank. Und wer darniederliegt und darbt, verdient nichts. Damit leidet auch der Unterhalt für die oft vielköpfigen Familien. Dieses kollektive Elend entgeht dem stets gut informierten Reichskanzler auf Schloss Friedrichsruh nicht. Adel und Großbürgertum, die kurieren ihren Sommerschnupfen wonnig auf dem sonnigen Sommersitz. Das Proletariat hingegen schleppt sich zur Maloche, bis der Arzt kommt - und der kostet leider nicht wenig. Solch soziale Schieflage, nur eine von vielen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, macht das Volk zusehends unruhig. Und so salbt Bismarck per Gesetz die geschundenen Leiber der kaiserlichen Untertanen mit dem allgemeinen Zugang zur Krankenkasse. Arbeiter bis 2000 Mark Einkommen sind drin, Beamte, Selbständige und Geistliche nicht – die gründen eigene private Kassen. Was letztlich bis heute den Unterschied von privat und gesetzlich Versicherten zementiert. Und eins dürfte Bismarck sicher auch motiviert haben, die Krankenversicherung einzuführen: die junge deutsche Sozialdemokratie kommt grad in die Gänge, und der schnauzbärtig-kaisertreue Mastermind will dem unter allen Umständen etwas Soziales entgegensetzen.

Das Gesetz ist dasjenige in der Reihe preußischer Sozialreformen, das im Reichstag am wenigsten Widerstand erzeugt. Die Kassen werden dezentral organisiert, von Arbeitgebern zu einem Drittel, von Arbeitnehmern zu zwei Dritteln durch Beiträge finanziert, kosten den Staat also nichts.

Vom politischen Coup zur Erkenntnis

Für Industrie- und Landarbeiter stellt die Krankenkasse ein Novum dar. Sie sind von nun an verpflichtend krankenversichert. 1885 sind es 4,3 Millionen Menschen in Deutschland, damals 9,2 Prozent der Bevölkerung, am Ende des Ersten Weltkriegs liegt die Zahl der Versicherten bei 15,6 Millionen, fast ein Viertel der damaligen Bevölkerung. Das Angebot wird gut angenommen. Mit dem Krankengeld lässt sich der Lohnausfall schließlich halbwegs überbrücken. Ja, was als politischer Coup gedacht war, mündet in der Erkenntnis: Wenn es nicht am Einzelnen liegt, muss der Staat etwas gegen die Not tun. Dann muss ein Netz her, das diejenigen auffängt, denen sonst Gefahr für Leib und Leben droht. Eine Maxime, die so wenig aus der Mode scheint wie das eingangs erwähnte Fischbrötchen…


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