Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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9. September 1964 DDR-Bürgern wird ein Westbesuch pro Jahr erlaubt

Bis zum Bau der Berliner Mauer konnte man noch mal eben schnell rüber in den Westen und wieder zurück. Dann sind für Jahre sämtliche Grenzen dicht. Der Unmut der Bevölkerung darüber bringt den DDR-Ministerrat dazu die Statuten zu lockern, wenigstens für Rentner. Autor: Hartmut E. Lange

Stand: 09.09.2021 | Archiv

09 September

Donnerstag, 09. September 2021

Autor(in): Hartmut E. Lange

Sprecher(in): Johannes Hitzelberger

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Ausziehen! Ausziehen! skandiert der kleine Hugo und schaut seine Großmutter erwartungsvoll an.

Los, umdrehen! befiehlt sie ihrem Liebling. Hugo gehorcht, kann aber die Oma über die Spieglung in der Glastür des Wohnzimmerschranks beobachten. Die Oma knöpft die Bluse auf, ein rosafarbenes Unterteil mit Haken und Ösen wird sichtbar. Und dann? Hugo staunt, wie immer, wenn die Oma vom West-Besuch zurückkehrt.

Was alles in so ein Mieder reinpasst! Un – glaub - lich!
Ein Mickymaus Heft.
Ein Lucky Luke Heft.
Der aktuelle SPIEGEL für die Eltern.
Und - darauf hat er sich am meisten gefreut - moosgrüner Einband, goldene Lettern, 442 Seiten: Karl May – Winnetou I.

Einer alten Dame an die Wäsche gehen? Das trauen die sich nie! erklärt die Oma kichernd, sie meint damit die DDR-Grenzer.

Ein ganzes Land wird zugesperrt

So oder so ähnlich, Szenen wie diese gibt es überall im Osten. Doch dann ist plötzlich Schluss mit Reisen. Nach dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 wird auch die grüne Grenze zur BRD dichtgemacht. Die DDR ist völlig abgeriegelt. Nicht nur Freunde, auch Familien sind getrennt. Selbst an Feiertagen wie Weihnachten und Ostern sind Besuchsreisen nach drüben nicht erlaubt. Von Bildungsreisen ganz zu schweigen. Wer meint, einmal im Leben die Zugspitze, den Kölner Dom oder die Porta Nigra sehen zu müssen - Pech gehabt, im falschen Teil Deutschlands geboren! Da hilft selbst die listige Erklärung nichts, es ziehe einen an die Wurzeln der Idee, man müsse unbedingt das Geburtshaus von Karl Marx in Trier besichtigen.

Sieht aus wie Großzügigkeit, ist aber Druck ablassen

Doch abgesehen von Lippenbekenntnissen treuer Genossen zur harten Linie der Partei - seit dem Mauerbau ist die Stimmung in der Bevölkerung am Boden. Höchste Zeit etwas Druck aus dem Kessel zu lassen. Am 9. September 1964 beschließt der Ministerrat der DDR eine neue Reiseverordnung. DDR-Bürger dürfen 4 Wochen im Jahr in den Westen reisen. Bedingung: Sie müssen Rentner sein und eine schriftliche Einladung von Verwandten vorlegen.

Anfang November rollen die ersten Interzonenzüge, bei der Ankunft im Westen spielen sich rührende Szenen ab. Eltern können die vor Jahren geflüchteten Kinder wieder umarmen, sehen zum ersten Mal ihre Enkel leibhaftig. Doch bei aller Freude, richtig wohl fühlen sich die Besucher aus dem Osten nicht, denn sie sind finanziell abhängig von der Verwandtschaft. Durch die Devisenknappheit der DDR dürfen sie nur 25 Mark umtauschen. Die Bundesregierung reagiert großzügig, jeder Rentner erhält 50 DM Begrüßungsgeld.

Mit der Reiseerlaubnis gibt die DDR-Regierung auch grünes Licht für Klein-Hugos lang ersehnte Lektüre: Winnetou, Band II.Denn auch Oma Else besucht wieder ihre Verwandten in Neuwied und West-Berlin.

Kinder wachsen, Wünsche auch. Auf Comic-Hefte folgt die BRAVO, auf Karl May folgt Orwells Animal Farm. Auch Schallplatten passen in Omas Mieder. Jedenfalls Singles, von den Beatles und den Rolling Stones. Oma Else aus Sachsen arbeitet unermüdlich an der politischen und kulturellen Bildung von Enkel Hugo.


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