Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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20. April 1939 Bittere Ernte: Billie Holiday singt "Strange Fruit" erstmals auf Platte

"Strange Fruit" - dieser Song der afroamerikanischen Sängerin Billie Holiday ist einer der berühmtesten Proteste gegen die Lynchmorde in den Südstaaten der Vereinigten Staaten. Der Titel "Strange Fruit" hat sich als mahnende Metapher für Lynchmorde etabliert. Billie Holiday erschütterte mit diesem Lied ihr Publikum. Autor: Simon Demmelhuber

Stand: 20.04.2022 | Archiv

20 April

Mittwoch, 20. April 2022

Autor(in): Simon Demmelhuber

Sprecher(in): Irina Wanka

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Gerade hat sie noch da gestanden, die kleine Frau mit der weißen Blume im Haar. Jetzt ist die Bühne leer, ein schwarzer Schacht, in dem verloren ein leerer Lichtmond treibt. Niemand spricht, niemand rührt sich. Kein Gläserklirren, kein Stühlerücken, kein Geplauder. Sogar der Staub im Scheinwerferkegel steht still. Es ist wie jeden Abend, wenn Billie Holiday dieses Lied im Café Society singt. Immer am Schluss ihres Sets, von einem einzigen Spot aus der Finsternis gesägt.

Bittere Ernte

Sie schließt die Augen, legt den Kopf zurück und singt von Pappeln mit starken Ästen, an denen seltsame Früchte reifen. Menschenobst schaukelt im süßen Magnolienwind, schwarze Körper pendeln an Stricken, geplatzte Augen und offene Münder klaffen, Krähenfutter tropft sonnengedörrt ins weiche Gras. Strange Fruit: die bittere Ernte illegaler Hinrichtungen tief im Herzen der USA.

Billie schreit den Schrecken nicht hinaus. Sie singt leise, in sich gekehrt, wie jemand den nichts mehr brechen kann, weil schon alles zerbrochen ist. Wie jemand, der vom Trauern müde auf der dunklen Seite des Betens angelangt ist. Strange Fruit, das sind nicht nur die Opfer der Lynchjustiz. Das sind Jahrhunderte weißer Gewalt und Arroganz, das sind Hundepeitschen, die sich in wehrloses Fleisch verbeißen, das sind Tritte mit Stiefeln, Worten und Blicken, das sind Hintereingänge, getrennte Toiletten, Whites Only-Kränkungen, das ist ihr Vater, der elend krepiert, weil kein Krankenhaus in Texas einen sterbenden Schwarzen aufnehmen will.

Mit dem letzten Akkord schlüpft Billie Holiday stumm von der Bühne. Keine Verbeugung, kein Gruß, keine Zugabe, kein Applaus. Das Lied hat alles verschluckt. Trotzdem zieht es Massen ins Café Society mitten im hippen New Yorker Village, um Lady Day und dieses Lied zu hören.

Geschrieben hat es ein russisch-jüdischer Einwanderer aus der Bronx, der das Foto eines Lynchmords aus seinem Kopf schaffen musste. Aber jetzt ist es ihr Song, und singen kann sie ihn nur hier, wo Intellektuelle und Künstler ein anderes Amerika probieren, ein Amerika, in dem die Hautfarbe nicht darüber entscheidet, wer Mensch oder Müll ist.

Der Blick in den Spiegel

Aber deshalb eine Platte aufnehmen? Den Leuten von Columbia Records ist die Sache zu heiß. Das gibt nur Ärger, niemand will so etwas Ende der 30er Jahre hören. In Manhattan vielleicht, okay, aber sonst, no way! Ein kleines Label wagt es dann doch, und so steht Billie Holiday am 20. April 1939 im Studio und nimmt Strange Fruit für Commodore Records auf.

Es dauert lange, bis Amerika es erträgt, sich im Spiegel dieses Songs zu sehen. Weiße Kritiker und Medien lehnen ihn als musikalische Propaganda ab, kaum ein Sender spielt ihn, Politiker wettern, sogar das liberale Time Magazine geifert die verstörende Platte nieder. Heute ist Strange Fruit ein unsterbliches Jazzjuwel, ein unantastbares Kulturerbe der USA, ein wichtiger Meilenstein der Bürgerrechtsbewegung.

Billie selbst hat die Sache nie so hoch aufgehängt. Für sie war Strange Fruit immer nur der Song, der es schaffte, die anständigen Leute von den Kretins und Idioten zu trennen.


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