Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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20. April 1964 Das erste Nutella-Glas wird ausgeliefert

Entwickelt von Pietro Ferrero nach dem Vorbild einer unter anderem zur Pralinenherstellung verwendeten Masse aus Nüssen, Zucker und Kuvertüre: Nutella. Autor: Gregor Hoppe

Stand: 20.04.2017 | Archiv

20 April

Donnerstag, 20. April 2017

Autor(in): Gregor Hoppe

Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Wer öfter mit dem Auto in Italien unterwegs ist, wird kaum für möglich halten, dass die Begriffe so klar festliegen sollen: Aber Italiener lieben es tatsächlich, die sie umgebende Dingwelt in "links" und "rechts" einzuteilen. Auch wenn sie es am Steuer für überflüssig halten, durch Blinken anzuzeigen, ob sie abbiegen, und vor allem, wohin. Das Einteilen des Universums in "links" und "rechts" ist natürlich im engeren Sinne politisch-soziologisch zu verstehen, umfasst aber auch Bereiche des Alltagslebens. Also: Jeans sind "links", ein Sakko ist "rechts". Eine Dusche "links" ein Vollbad in der Wanne "rechts".

Unschärfe im Weltmodell

Ah, die Signorina will nichts von mir wissen? Na ja, trägt ja auch diese engen Jeans, wie sie für die radikale Linke kennzeichnend sind. Sie hab ich doch neulich im Baumarkt getroffen - wählen Sie also auch die "Nationale Allianz"? Zugegeben, die Methode führt manchmal in die Irre, zu Missverständnissen, ja, zu Vor- und Fehlurteilen. Aber erstens hat man meist nicht die Zeit, Menschen und Dinge gründlich auszuleuchten. Zweitens ergibt sich, wenn man es doch einmal versucht, zumeist eine nette, aufschlussreiche Unterhaltung. Und drittens existieren in Italien natürlich auch jede Menge Dinge, auf die weder die eine noch die andere Seite verzichten möchte und sie daher beide besonders vollmundig für sich vereinnahmen. Alles Essbare etwa. Es sei denn, es kommt, wie Schweizer Schokolade oder französischer Champagner, aus dem Ausland und outet sich dadurch als typisch konservatives Luxusgut.

Vereinigung des Unvereinbaren

Wie gesagt, es lauert eine nicht unerhebliche Unschärfe in diesem Weltmodell, aber zuweilen erleichtert es die Orientierung ungemein. Eine Errungenschaft allerdings entzieht sich jeder Zuordnung: Nutella. Der allgegenwärtige Haselnussaufstrich verklebt gewissermaßen alle Gräben, füllt und übertüncht sie, und erreicht so in Italien Alt und Jung, Kommunisten und Klerikale, Feinschmecker und Vielfraß. Das macht auch seine Bedeutung für die Gesellschaftswissenschaften aus. Die Nutellologie spricht von einer Produktcharakteristik, die das an sich Unvereinbare dennoch zusammenspannt.

Allein schon, dass der Schriftzug des Namens aus roten und schwarzen Buchstaben besteht, leistet der breitestmöglichen Verwurzelung des - pardon - Globalbaatzes beidseits der politischen Demarkationslinie Vorschub.

Folgerichtig ist die Paste unbestritten ein Massenprodukt, stammt aber aus der Edelfressecke des Landes: In Asti im Piemont, weltweit für Erlesenstes berühmt, verließ am 20. April 1964 das erste Glas die Fertigungsstätte. Und war doch nur eine Weiterentwicklung von Pietro Fererros "crema gianduja" und der "supercrema" - deren Entstehung sich der strengen Rationierung von Schokolade in der Nachkriegszeit verdankte. So fühlten sich schon in der Geburtsstunde vorige Generationen dankbar erinnert - und das ist immer verkaufsfördernd. Fast so sehr, wie der Slogan, wonach es nur dort drin sei, wo es auch draufstehe. Was uns zum wohlgehüteten Geheimnis der genauen Rezeptur bringt: Nehmen wir einmal an, hinter dem Oberbegriff Pflanzenöl - dem zweiten Hauptbestandteil nach Zucker - verberge sich Erdnussöl. Wäre das nicht köstlich, wo man doch weiß, dass sich diese Haselnuss-Schoko-Creme besser verkauft als alle Erdnussbutter-Marken weltweit zusammen? Und wie hätten wir das zu deuten? Als Welthandel und Globalisierung bejahende Verkaufsstrategie oder als die nackte Kapitalismuskritik? 


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