Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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16. September 1980 Jean Piaget gestorben

Sein Thema war die Entwicklung der menschlichen Intelligenz, die er in der Entwicklung der kindlichen Intelligenz wiederholt sehen wollte. Über 50 Jahre lang erforschte Jean Piaget das Verhalten und die Entwicklung der Logik des Kindes. Entdeckte, warum Kinder Wolken für lebendig halten und eher schlechte Geschichtenerzähler sind. Am 16. September 1980 ist er gestorben.

Stand: 16.09.2011 | Archiv

16 September

Freitag, 16. September 2011

Autor(in): Susanne Tölke

Sprecher(in): Ilse Neubauer

Redaktion: Thomas Morawetz / Wissenschaft und Bildung

Er hat immer im Schatten des berühmten Seelenforschers aus Wien gestanden. Alle Welt kennt Sigmund Freud, aber wer kennt Jean Piaget? Und doch hat der französischsprachige Schweizer ein ebenso fundamentales Werk geschaffen wie der Österreicher. Allerdings geht es bei Piaget um die menschliche Intelligenz, und das ist bei weitem nicht so aufregend wie die menschlichen Triebe. Deshalb sind Begriffe wie das Es, das Ich und das Über-Ich oder der Oedipuskomplex längst in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen, Piagets "sensomotorische Phase" oder der "Egozentrismus" hingegen weitgehend unbekannt.

Dabei müsste die schrittweise Entwicklung des Denkens doch genauso spannend sein wie die Entwicklung der Gefühle - zumindest fand das der junge Psychologieprofessor, als er in Paris im Auftrag einer amerikanischen Firma einen auf US-Kinder zugeschnittenen Intelligenztest der französischen Lebenswelt anpassen sollte. Er entdeckte dabei, dass Kinder unter zehn Jahren die Flugbahn eines geworfenen Steins als eine Waagerechte darstellen, die sich über dem Ziel rechtwinklig in eine Vertikale ändert. Ein scharfer Knick und ein senkrechter Fall!

Was ihn daran so faszinierte, war die Entdeckung, dass Aristoteles in seiner Physik die Flugbahn genauso beschrieben hatte. Piaget folgerte daraus, dass jedes Kind die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes individuell noch einmal nachvollzieht. Wenn es also gelänge, die einzelnen Schritte der kindlichen Entwicklung zu analysieren, hätte man gleichzeitig eine allgemeine Erkenntnistheorie. Sein Lebensthema war gefunden, und 55 Jahre lang, bis zu seinem Tod am 16. September 1980, erforschte er, wie es im kindlichen Gehirn zu Vorstellungen über Gegenstände, Raum und Zeit kommt.

Wer Kinder unter sieben Jahren hat, kann es ja mal ausprobieren. Kinder unter sieben halten es für ausgeschlossen, dass eine Flüssigkeit ihre Menge behält, selbst wenn sie sehen, wie sie aus einem hohen und dünnen Gefäß in ein dickes und breites umgegossen wird. Oder: Ein Kind sieht, wie aus einer Knetmassekugel eine Wurst wird, glaubt aber, dass die Masse der Kugel dabei kleiner wird, weil eben dünner, oder größer, weil eben länger.

Außerdem sind Kinder in diesem Alter im wahrsten Wortsinn egozentrisch, sie beziehen alles auf das eigene Ich. Sie können sich noch schwer in andere Menschen und deren Horizont hineindenken. Deshalb sind sie eher schlechte Geschichten-Erzähler. Wer die Geschichte, die sie erzählen wollen, noch nicht kennt, versteht kaum, um was es gehen soll. Dafür beziehen Kinder auch unbelebte Gegenstände auf sich selbst und halten sie in einer ersten Entwicklungsphase für belebt. Erst nach und nach erkennen sie, dass der Ball sich nicht mit Absicht weigert, gerade aus zu fliegen, oder dass Wolken nicht lebendig sind, nur weil sie fliegen können.

Und Piaget erforschte sogar noch frühere Lebensalter. Er fand auch heraus, dass ein Baby unter acht Monaten keineswegs sicher ist, dass ein Gegenstand, der aus seinem Gesichtsfeld verschwindet, auch weiterhin existiert.

Vieles entdeckte der Forscher an seinen eigenen Kindern, die er von der ersten Minute an mit wissenschaftlichem Eifer beobachtete. Er scheint das so gut gemacht zu haben, dass sie keinerlei Schaden davontrugen: "Für die Erziehung war ausschließlich meine Frau zuständig.", behauptete er. "Ich habe nur dokumentiert. Als meine Kinder in die erste Klasse kamen, waren die Lehrer ganz erstaunt, dass sie es mit stinknormalen Analphabeten zu tun hatten!"


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