Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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11. Dezember 2002 Gorch Fock verliert Galionsfigur

Das deutsche Segelschulschiff Gorch Fock verlor bislang fünf Mal ihre Galionsfigur, einen Albatros - eigentlich das Glückssymbol der Seeleute. So auch am 11. Dezember 2002 bei einem Sturm im Ärmelkanal. Autorin: Astrid Mayerle

Stand: 11.12.2015 | Archiv

11 Dezember

Freitag, 11. Dezember 2015

Autor(in): Astrid Mayerle

Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Der Westwind ist da und mit ihm die Albatrosse, bemerkten die Matrosen der Gorch Fock, als sie vor einem halben Jahrhundert Kurs auf die Känguru-Insel nahmen. Ein knapp 150 Kilometer langes Eiland vor der Südküste Australiens. Das Auftauchen der Albatrosse kann in diesem Moment kein Zufall sein, und es kann auch nicht damit zusammen hängen, dass die Tiere extrem scharf sind auf über Bord geworfene Küchenreste. Werden Albatrosse in Romanen, Seemannsgeschichten oder in Bordtagebüchern erwähnt, dann als lebendige Symbole: Sie stehen für erfolgreiche Reisen, verkörpern hoffnungsvolle Vorhersehung, sie überbringen freudige Begrüßungssignale von neuen Territorien.

Warum aber hat eben dieses Tier eine so steile Karriere als Glückssymbol der Seefahrer gemacht? Sicher nicht wegen seiner bekannten Start- und Landeschwierigkeiten, auch nicht aufgrund seines behäbigen Watschelgangs an Land. Wahrscheinlicher ist es, dass der Albatros wegen der enormen Spannweite der Flügel - bis zu dreieinhalb Metern - zum Glückssymbol taugt. Mit seinen kräftigen Schwingen kann er mühelos große Strecken zurücklegen und sogar gegen Stürme anfliegen. Außerdem wird er sehr alt.

Das bekannte deutsche Segelschulschiff, die Gorch Fock, begleiten allerdings nicht nur die Albatrosse am Himmel, sondern auch einer am Bug: Die Gorch Fock hat den Seevogel zu ihrer Galionsfigur erwählt, einen goldenen Albatros mit geschwungenen Flügeln und einem scharf nach unten gebogenen Schnabel. Eine Galionsfigur ist weit mehr als der Dekolletéschmuck eines Schiffs: Wie Medusenhäupter auf römischen Rüstungen soll sie Gefahren abhalten. Sie soll gute Winde und Gefährten anlocken, die Besatzung vor Stürmen, Sirenen und Piraten schützen, das Schiff auf Kurs halten. So will es der Mythos. Daher wurden bereits Drachenköpfe, Hexen, Aztekenkaiser, Indianerhäuptlinge und Wappen stemmende Raubtiere als Galionsfiguren geschnitzt. Aphrodite, Neptun und vor allem Nixen tauchen besonders häufig auf.

Gäbe es ein Ranking der symbolträchtigsten Besitzverluste stünde der einer Galionsfigur sicher ganz oben - weit abgeschlagen davon rangierte etwa der verlorene Ehering. Zwar stellte der Kapitänleutnant der Gorch Fock bei Kurs auf die Känguru-Insel fest, ein Schiff brauche mehr Pflege als ein Filmstar, so hat sich die Besatzung wohl dennoch auf den nächsten Reisen nur um die Frisur der Takelage, die Farbwahl der Segel und um den tadellosen Lack der Außenbordwände gekümmert. Nach der Politur der Laternen, Kompasse und Schiffsglocken muss sie den Albatros am Bug völlig vergessen haben. Nicht anders ist es zu erklären, dass sich die Verankerung der Galionsfigur mehrmals lösen konnte und die Gorch Fock ihren Albatros ganze fünf Mal verloren hat - so auch am 11. Dezember 2002 bei einem Sturm im Ärmelkanal.

Und was bedeutet das Ganze? Vielleicht nicht weniger, als dass die Geschichte dieses Glückssymbols umgedacht werden muss. Denn die Besatzung der Gorch Fock befreit auch heute noch jeden Albatros, der sich in der Takelage verheddert. Daher ist zwar ungewiss, ob die Galionsfigur wirklich das Schicksal der Seeleute bestimmt, sicher ist allerdings: Den Albatrossen am Himmel bringt sie Glück!


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