Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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11. Oktober 1916 Erlass zur "Judenzählung"

Der Erste Weltkrieg dauerte schon länger, als man sich gedacht hatte. Ein traditioneller Sündenbock war schnell gefunden: die Juden, die sich angeblich vor dem Frontdienst drückten. Am 11. Oktober 1916 ordnete der Kriegsminister die sogenannte "Judenzählung" im Militär an.

Stand: 11.10.2010 | Archiv

11 Oktober

Montag, 11. Oktober 2010

Autor(in): Julia Mahnke-Devlin

Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl

Redaktion: Thomas Morawetz / Wissenschaft und Bildung

Im Sommer 1916 befand sich das Deutsche Reich im zweiten Kriegsjahr, und die Stimmung war entsprechend schlecht. Wie waren alle jubelnd in den Krieg gezogen, in der festen Überzeugung, in wenigen Wochen sei alles vorbei, siegreich für Deutschland, selbstverständlich. Aber nun zog sich alles länger und unerfreulicher hin als erwartet, und mit den Entbehrungen und Enttäuschungen stiegen auch die sozialen Spannungen. Und es gab viele, die machten ihrer Trauer und ihrer Wut Luft, indem sie die Schuld an der Misere auf einen traditionellen Sündenbock schoben: die Juden. "Überall grinst ihr Gesicht - nur im Schützengraben nicht!" lautete der Refrain eines antisemitischen Knittelverses.

Antisemitismus war in der wilhelminischen Gesellschaft weit verbreitet. Im Militär hatte er besonders feste Wurzeln geschlagen. Als nun seit dem zweiten Kriegswinter körbeweise Denunziationsbriefe über "jüdische Drückebergerei" und "Kriegswucher" im Kriegsministerium eintrafen, entschloss sich der Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn zu einem folgenschweren Schritt. In einem Erlass vom 11. Oktober 1916 verpflichtete er alle militärischen Dienststellen zu einer Erhebung über den Anteil der Juden im Militär, und zwar sowohl der diensttauglichen, aktiven Soldaten an der Front als auch der, wie es im bürokratischen Originalton heißt, "noch nicht zur Einstellung gelangten, vom Waffendienst zurückgestellten und als dauernd oder zeitweilig dienstuntauglich befundenen Juden".

Vordergründig sollte der Erlass die antijüdischen Anfeindungen entkräften. Doch insgeheim hoffte man, tatsächlich die Vorwürfe bestätigt zu sehen - unter anderem, weil schon viele gefallene Soldaten zu beklagen waren und dem Heer der Nachschub knapp wurde. Mit den tausenden wehrtauglichen Juden, die sich angeblich in Schreibstuben oder Rüstungskontoren vor dem aktiven Dienst an der Waffe drückten, hätte man noch einmal eine große Reserve gehabt.

Für die deutschen Juden war der Erlass ein Schlag ins Gesicht. Juden jeglicher Couleur, egal ob Zionisten, Liberale oder Orthodoxe, waren bei Kriegsausbruch ebenso begeistert-patriotisch ins Feld gezogen wie ihre christlichen Landsleute, um - wie es hieß - beim "gerechten Abwehrkampf" ihres Vaterlandes ihren Teil zu leisten. Und das, obwohl Karrieren beim Militär ihnen seit 1885 verwehrt waren. Das änderte sich nun rasch: Im November 1915 zählte man über 700 jüdische Offiziere.

Für viele war dieses Engagement mit der Hoffnung verbunden, nun endlich gleichberechtigt zu sein. "Bei Kriegsbeginn schien jedes Vorurteil verschwunden, es gab nur noch Deutsche", schrieb der jüdische Feldwebel Julius Marx im Oktober 1914 in sein Tagebuch. Doch nachdem er seinem Kompanieführer entwürdigende Fragen zur "Judenstatistik" beantworten musste, während feindliche Artillerie ihren Unterschlupf beschoss, vermerkte er bitter: "Will man uns zu Soldaten zweiten Ranges degradieren? Pfui Teufel! Dazu also hält man für sein Land den Schädel hin!"

Die Ergebnisse der Erhebungen wurden bis Kriegsende geheim gehalten. Doch spätere Auswertungen bestätigten nur, was auch die Erhebungen des jüdischen Büros für Statistik ermittelt hatten: Juden hatten sich ihrem Anteil an der Bevölkerung gemäß an der Front eingesetzt, waren ihrem Anteil gemäß mit Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet worden, waren ihrem Anteil gemäß gefallen, und bei den Freiwilligen lag ihr Einsatz prozentual gesehen sogar über dem Gesamtdurchschnitt. Doch diese Zahlen konnten die Bruchlinie, die sich mit dem Erlass vom 11. Oktober 1916 aufgetan hatte, nicht mehr kitten. Mit der Judenzählung war der Antisemitismus staatlich legitimiert worden.


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