Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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10. Oktober 1957 "Der Streik" von Ayn Rand erscheint

Ein Roman als Ideenpool der Politik: Ayn Rand und ihr Buch „Der Streik“. In den USA findet das radikale Weltbild der Immigrantin aus der Sowjetunion viele mächtige Anhänger. Autorin: Christiane Neukirch

Stand: 10.10.2017 | Archiv

10 Oktober

Dienstag, 10. Oktober 2017

Autor(in): Christiane Neukirch

Sprecher(in): Krista Posch

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

"Wozu soll man wollen, dass andere Menschen glücklich sind?" Das fragen sich Philosophen seit Jahrtausenden. Viele Antworten gab es darauf – doch die, die wir in diesem Kalenderblatt betrachten wollen, unterscheidet sich deutlich von der Mehrheit. Sie lautet: Andere Menschen glücklich zu machen ist nicht nur schlecht, sondern auch verwerflich und führt in Ausbeutung, Diskriminierung und letztlich in die Diktatur.

Objektivismus

Die Urheberin dieser Aussage verstand sich selbst als Philosophin – mehr noch: als Begründerin einer neuen Philosophie, die sie als die einzig gültige Wahrheit ansah. Sie wurde 1905 als Alissa Rosenbaum in der Sowjetunion geboren. Die Revolution von 1917 war ein scharfer Einschnitt in ihrem jungen Leben: der sowjetische Staat enteignete die Familie und nahm ihr die Lebensgrundlage, den väterlichen Betrieb. Die 21-jährige Alissa zog daraus ihre eigene Konsequenz: 1926 emigrierte sie in die USA. Ihr Traum: Drehbücher für Hollywood zu schreiben. Bis ihre Ideen verfilmt wurden, dauerte es noch gut zwei Jahrzehnte; doch sie ließ sich nicht abhalten, ihren glühenden Hass auf den Kommunismus in Romanen auszuleben. Für ihr Weltbild entwarf sie unter ihrem neuen Namen "Ayn Rand" eine Philosophie, die das nach eigenem Vorteil strebende Individuum zur moralischen Instanz erhob. Das ist die Grundlage aller ihrer Romane.

Die Moral des Kapitalismus

Darin zeichnet sie ein schwarz-weißes Weltbild, in dem Gut gegen Böse kämpft. Ihre Helden sind Großunternehmer. Sie sind die Sympathieträger, die einzigen Menschen, die klug und umsichtig genug sind, die Welt vor den Umtrieben der minderbemittelten und böswilligen Befürworter des Gemeinwohls zu retten. Kapitalismus, so ihre Botschaft, ist die moralischste Lebensform:

"Ich lehne das Prinzip der Selbstlosigkeit ab. Meine Philosophie sieht den Menschen als heroisches Wesen, dessen Moral nur vom Streben nach eigenem Glück bestimmt wird. Die produktive Leistung ist seine nobelste Tätigkeit", sagte sie in einem Interview. Die Entfaltungsmöglichkeiten der Wirtschaftsbosse müssen vor den Reglementierungen einer Staatsregierung, Sozialsystemen und Steuern geschützt werden.

Den Gipfelpunkt dieser kompromisslosen Utopien bildet der 1000-Seiten-Roman "Atlas Shrugged", zu Deutsch "der Streik", der am 10. Oktober 1957 erschien. Darin streiken einmal nicht die Arbeiter, sondern die Wirtschaftsbosse. Ihre Abwesenheit stürzt das Land in Niedergang, Leid und Tod. Je harscher Ayn Rands Tonfall wird, desto mehr wächst die Zahl ihrer Anhänger. Unter ihnen ist auch Alan Greenspan, der spätere Vorsitzende der US-Notenbank. So gelangten Ayn Rands Ideen ins Zentrum der Macht.

Ihr Einfluss ist auch nach ihrem Tod im Jahr 1982 noch immer ungebrochen. "Atlas Shrugged" verkauft sich in den USA besser denn je. Als 2009 Mitglieder  der radikalen "Tea-Party"-Bewegung gegen Obamacare demonstrierten, trugen sie Schilder mit Zitaten aus dem Buch. Präsident Donald Trump und Paul Ryan, Trumps Sprecher des Repräsentantenhauses, sind erklärte Anhänger Ayn Rands. Was sie propagieren, ist also mitnichten ihrem eigenen Denken entsprungen. Die Geschichte dieser Auffassungen beginnt viel früher, mit dem persönlichen Trauma einer Immigrantin aus Russland.


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