Bayern 2 - Das Kalenderblatt


1

10. August 1912 Virginia Stephen heiratet Leonard Sydney Woolf

Eine glückliche Ehe, meinte Virginia – trotz Selbstmordversuchen. Ihr letzter gelang. In ihrem Abschiedsbrief an den Gatten schreibt sie: "Alles, außer der Gewissheit Deiner Güte, hat mich verlassen." Autorin: Justina Schreiber

Stand: 10.08.2017 | Archiv

10 August

Donnerstag, 10. August 2017

Autor(in): Justina Schreiber

Sprecher(in): Caroline Ebner

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Was gehen einen die Ehen fremder Leute an? Eigentlich gar nichts. Und doch gibt es kaum etwas Interessanteres als den sogenannten Kampf der Geschlechter! Was ist zum Beispiel davon zu halten, wenn eine hochreflektierte Frau, bevor sie nach 28 Ehejahren Selbstmord begeht, ihrem Gatten schreibt, dass sie alles Glück in ihrem Leben nur ihm verdanke?

Theorie und Anwendung

Obwohl er sie erwiesenermaßen ziemlich kontrolliert hatte: was sie aß, wann sie ruhte, welche sozialen Kontakte sie pflegte. Nur zu ihrem Besten natürlich. Und in der Tat mag dieser klar strukturierte Alltag  dazu beigetragen haben, dass die psychisch labile Schriftstellerin ein  beachtliches Werk schaffen konnte. Aber hatte er ihr mit seiner Dauer-Fürsorge nicht im Grunde genau die Autonomie und Gleichberechtigung abgesprochen, die sie in ihren feministischen Texten für Ihresgleichen forderte? Übrigens sekundiert von ihm, der als politisch aktiver Sozialist das patriarchale System immer wieder öffentlich kritisierte. Klafften hier Theorie und Anwendung nicht etwas weit auseinander? Oder muss man die Angelegenheit - wie es auch dem Paar selbst nahe lag – mit psychoanalytischem Blick betrachten und fragen: Kompensierte er vielleicht gewisse Minderwertigkeitsgefühle, indem er sie zur chronisch Kranken erklärte, was ihr wiederum bewusst war? Weshalb sie ihm, aus schlechtem Gewissen wie aus Bequemlichkeit, die Verfügungsgewalt über viele Entscheidungen überließ…

Aber das alles greift zu kurz, um die vielschichtige Beziehung zu erklären. Dass die beiden eine der interessantesten Ehen des 20. Jahrhunderts führen würden, deutete sich schon an, als Virginia Stephen Leonard Woolf am 10. August 1912 um 12 Uhr 15 in London St. Pancras tatsächlich das Jawort gab. Bereits im Vorfeld hatte sie ihn vor ihrem wankelmütigen Charakter gewarnt und sogar darüber aufgeklärt, dass er sie erotisch überhaupt nicht interessiere. Er jedoch, der ihren Geist, ihren Humor und ihre Genialität bewunderte, nahm ihre Offenheit als Kompliment. Schließlich hatte er als Kolonialbeamter in Ceylon die Bürokratie erfolgreich vereinfacht und beschleunigt.

Jetzt würde er doch wohl mit einer frigiden snobistischen „Ziege“ aus viktorianischem Stall zurechtkommen.

Sublimierter Nachwuchs

So ertrug er vieles mit Geduld und Güte -  selbst, dass sie ständig unkorrekte Witze über "ihren Juden" machte. Wie sich auch das Problem mit dem Nachwuchs intellektuell bewältigen ließ. Sie wollte welchen, hätte dafür aber den heterosexuellen Beischlaf freudiger begrüßen müssen. Er jedoch, der sie durchaus begehrte, war strikt gegen eigene Kinder, weil er jegliche Erschütterung ihrer Nerven fürchtete. So kann man es als großartigen Akt der Sublimierung interpretieren, dass die Eheleute zusammen "The Hogarth Press" ins Leben riefen, einen kleinen belletristischen Verlag, der sich prächtig entwickelte. "Dichtung sollte sowohl eine Mutter wie einen Vater haben" schrieb Virginia Woolf in ihrem berühmten Essay "Ein Zimmer für sich allein". Denn was zähle, sei, das Wesen der Wirklichkeit zu erkennen, es zu sammeln und mitzuteilen. Und sich nicht im Hickhack zwischen angeblich weiblichem und männlichem Lager zu verlieren. "Der Geist muss als Ganzes weit offen stehen!" Wenn das nur einfacher wäre. 


1