Bayern 2 - IQ - Wissenschaft und Forschung


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Ghettoforschung Wie Historiker die Rentenbürokratie besiegten

War Ghettoarbeit eine freiwillige Arbeit? Eine scheinbar zynische Frage, deren Beantwortung aber mit darüber entscheidet, ob die Holocaust-Überlebenden, die in Ghettos gearbeitet haben, eine deutsche Rente erhalten.

Von: Julia Smilga / Redaktion: Nicole Ruchlak

Stand: 18.01.2011 | Archiv

Stacheldraht am ehemaligen KZ Sachsenhausen | Bild: picture-alliance/dpa

Am Anfang stand ein Präzedenzfall. Im Jahr 1997 hatte eine ehemalige Näherin aus dem Ghetto Lodz auf Zahlung ihrer deutschen Rente geklagt und gewonnen.  Daraus entstand das Gesetz zur sogenannten "Ghettorente". Alle ehemaligen Ghettoinsassen, die im Ghetto gearbeitet hatten, konnten nun Rentenanträge stellen. Es wurden 70.000 gestellt. Fast alle davon wurden abgelehnt.

Die Begründung: die Arbeit im Ghetto war nicht freiwillig, sondern Zwangsarbeit und Zwangsarbeit ist bereits aus den Mitteln der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" entschädigt worden. Viele Sozialrichter gaben den Rententrägern Recht. Doch einem von ihnen erschien dieser Entscheidungsprozess übereilt. Der Richter Jan Robert von Renesse vom Sozialgericht Nordrhein-Westfalen fragte sich grundsätzlich, ob man die heutigen Rentenversicherungsregeln auf die NS-Zeit anwenden darf? Von Renesse wandte sich an Historiker. 

"Die Historiker haben natürlich in dem Fall von Ghettos eher in dem allgemeinen Bewusstsein gelebt: Arbeit im Ghetto ist Zwangsarbeit. Und die Strukturen des Ghettos sind noch so wenig erforscht, da gibt es noch so starke Lücken in unserem Wissen, dass wir da erst mal ganz von vorne anfangen mussten - und das war auch für Historiker ganz spannend."

Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität in Berlin

Die Wirklichkeit des Ghettos

Bis dahin galt das Thema "Ghetto" unter Historikern als ein relativ gut erforschtes Gebiet. Außer einer Bestandsaufnahme der Gräueltaten an der jüdischen Bevölkerung gab es diverse Abhandlungen über die großen Ghettos in Warschau, Lodz und Theresienstadt und die dortigen Vernichtungsaktionen. Das Thema "Arbeit im Ghetto" wurde oft unter dem Schlagwort "Zwangsarbeit“ zusammengefasst.

Im Auftrag von Richter von Renesse forschten 36 Historiker weltweit. Bei jedem einzelnen Streitfall mussten die Historiker Archive aufsuchen, nach Beweisen in Berichten von Überlebenden suchen, Memoiren durchforsten, Zeugenaussagen auswerten, alles mit dem Ziel, die freiwillige Arbeit gegen Bezahlung von der reinen Zwangsarbeit abzugrenzen.

"Durch diese Ghettorenten-Rechtsprechung sind die Historiker eigentlich darauf gestoßen worden, dass wir bei diesem Begriff genau die einzelnen Elemente des Zwangs analysieren und definieren müssen. Was ist der Unterschied zwischen einem KZ-Häftling, der einem Kommando unterstellt ist, der durchgezählt wird, der eingeordnet wird, und einem Ghettoinsassen, der sich selbst bemühen muss, eine Arbeit zu bekommen?"

Jürgen Zarusky, Historiker am Institut für Zeitgeschichte München

Immer noch ist vieles ungeklärt

Bis heute versuchen Wissenschaftler zum Beispiel, die Gesamtzahl der Ghettos zu ermitteln. Sie liegt weit über Tausend, aber genauere Angaben gibt es noch nicht. Allerdings förderte die Forschungsarbeit zahlreiche andere neue Erkenntnisse zu Tage – vor allem, was die Struktur und (Über-)Lebensformen im Ghetto betrifft. Mittlerweile liegen über Arbeit und Alltag im Ghetto Dissertationen vor, es wurden Sachbücher veröffentlicht, Konferenzen abgehalten und wichtige Schlussfolgerungen gezogen.

"Formulierungen wie 'freiwillig' oder 'ohne Zwang' müssen für die Überlebenden unangemessen, ja sogar zynisch klingen. Und doch können in einer gewissermaßen pragmatischen Sichtweise die Arbeiten im Ghetto im Sinne des Ghettorenten-Gesetzes als 'aus freiem Entschluss' aufgenommene Arbeiten angesehen werden. Denn die Menschen im Ghetto haben sich entschieden, Arbeit zu suchen und anzunehmen  um zu überleben. Menschen im Ghetto standen in diesem Sinne also im 'freien Arbeitsverhältnis'."

Historikerin Andrea Löw im Aufsatz 'Arbeit. Lohn. Essen - Überlebensbedingungen im Ghetto'

Die Folgen der historischen Forschung

Die Pionierarbeit von Richter von Renesse und seinem internationalen Historikerteam trug Früchte. Im Juni 2009 hat das Bundessozialgericht in Kassel anerkannt, dass die Kriterien "eigener Willensentschluss" und "Entgeld" in Bezug auf Ghettoarbeit viel breiter angewandt werden müssen. Unter den gegebenen Umständen reichte es zur Bestätigung der Freiwilligkeit aus, wenn der Antragsteller zwischen Arbeit und Hungertod entscheiden musste. Alle abgelehnten Bescheide werden seitdem neu bearbeitet. Und Historiker forschen über Ghettos weiter, jetzt unabhängig von den Rentenversicherungen und Landessozialgerichten.

Literaturtipps

Jürgen Zarusky (Hrsg): Ghettorenten. Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung, R. Oldenbourg Verlag München 2010

Christoph Dieckmann und Babette Quinkert (Hrsg): Im Ghetto 1939-1945. Neue Forschungen zum Alltag und Umfeld, Wallstein Verlag Göttingen 2009


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