Bayern 2 - Hörspiel


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Anna Zett Industrie und Glück. Meine Stimme irrt durch ein holistisches System

Stand: 11.09.2017 | Archiv

Produktionsfotos "Industrie und Glück", Außenaufnahmen mit Anna Zett (Autorin), Andrea Huyoff (Wahrsagerin), Tian Rotteveel (Spieler) und Ronel Doual (Stimmtherapeutin) | Bild: Anna Zett

Eine Gruppe von Künstler/innen und Heiler/innen trifft sich in einem Gartenhaus zu einem immersiven Experiment. Mit Hilfe eines vom spätmittelalterlichen Tarot de Marseille adaptierten Kartenblatts versuchen sie zur historischen Mythologie der Weimarer Republik eine drahtlose Verbindung herzustellen. Sie setzen sich zum Kartenspiel an einen runden Tisch. Auf dem Spiel steht die Möglichkeit mit Hilfe der eigenen Stimme Bedeutung zu erzeugen, Bedeutung zu zerstören, sich mit anderen abzustimmen. Die Karte Nummer 0, früher der Narr, heißt bei ihnen Odradek, nach Franz Kafka ein ungreifbares kindliches Ding ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, ohne Bedeutung. Um das von der Künstlerin Anna Zett entworfene Kartendeck Industrie und Glück zum Wahrsagen zu bringen, muss jemand Odradek eine Stimme leihen. Doch ein einzelner Körper reicht nicht aus, es braucht gemeinsame Übungen, verbale und non-verbale Kommunikationsversuche. Einzeln und gemeinsam bewegen sich die vier Spieler/innen durch das Ordnungssystem der Karten und des Gartens. Keine/r von ihnen kennt die ganze Erzählung, erst im Prozess des Spiels entsteht die Narration von Industrie und Glück.

"Wir mischen Glücksspiel und Wahrsage, Assoziation und Ausdruck und erproben dabei das begrenzte Spielfeld einer kapitalistischen Kosmologie und das offene System des sprechenden Körpers. Während sich mit aristokratischen und christlichen Motiven illustrierte Spiel- und Trumpfkarten im 15. Jh. in Mitteleuropa verbreiteten, wurden feudale Wirtschaftsordnung und kirchliche Herrschaft zunehmend in Frage gestellt. Mein Deck ‚Industrie und Glück’ ist aus dem Impuls entstanden die Motive dieses immer noch etablierten Kartensystems zu modernisieren, da in Europa gegenwärtig nicht die königliche Ordnung, sondern der demokratische, nationale Kapitalismus in der Krise ist. Tarot, vom surrealistischen Filmemacher und Wahrsager Alejandro Jodorowsky auch als ‚Lotterie der Gedanken‘ bezeichnet, ist nicht unbedingt an einen magischen Ursprungsmythos und vermeintlich universelle aristokratische Symbole gebunden. Im Industrialismus sind nicht unbedingt Ritual and Glaube, sondern eher Arbeit und Zufall die Grundlage für quasi-magische Sinnproduktion. Ein in Armut geborener Lotterie-Unternehmer hatte in den 1920ern in einem sächsischen Dorf einen alten Hof mit Wiesenland gekauft und in ein privates Naherholungsgebiet umgewandelt. Heute sitzen wir dort in einem Gartenhaus aus Stein, einst gebaut mit dem Geld von Menschen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben Lose gekauft und nichts gewonnen haben. Hier springen nun vier Performer/innen aus den post-faktischen Wirren des Jetzt in den esoterischen Modernismus der Weimarer Republik, um auf diesem Weg entweder ihre eigene Stimme zu finden oder die Stimme des Anderen. Die Geschichte wiederholt sich nicht, bloß ich wiederhole mich, erklärt ein Maschinenmensch aus der Ferne."

Anna Zett

Anna Zett: Industrie und Glück. Meine Stimme irrt durch ein holistisches System

Mit Ronel Doual, Andrea Huyoff, Tian Rotteveel, Johannes Frick und Anna Zett
Komposition: Tian Rotteveel

Ton und Technik: Nadja Krüger, Weiju Shen und Jochen Jezussek
Regieassistenz: Kristof Trakal
Regie: Anna Zett
BR 2017

Anna Zett, geb. 1983, Künstlerin und Autorin. Ihre performativen, akustischen und filmischen Arbeiten werden in Museen und Projekträumen, im Rahmen von Festivals und Konferenzen gezeigt, darunter Serpentine Gallery London, Whitney Museum New York, Sonic Acts Festival Amsterdam.


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