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Elena Ferrante "Meine geniale Freundin"

Die Buchreihe einer anonymen Autorin über eine Jugend im Neapel der 50er-Jahre bringt derzeit weltweit Kritiker und Leser ins Schwärmen. Und das bei einem durchaus harten Stoff. Nun ist der erste Teil auch auf Deutsch erschienen.

Von: Barbara von Becker

Stand: 29.08.2016

Buchcover: Elena Ferrante, "Meine geniale Freundin | Bild: Suhrkamp, Montage BR

"So war unsere Welt, voller Wörter, die töteten: Krupp, Tetanus, Flecktyphus, Gas, Krieg, Drehbank, Trümmer, Arbeit, Luftangriff, Bombe, Tuberkulose, Vereiterung. Mit diesen Wörtern und diesen Jahren rufe ich die vielen Ängste wieder wach, die mich mein Leben lang begleitet haben." Die das sagt, ist die 66-jährige Elena Greco, genannt Lenù, und die Jahre ihrer Kindheit, die diese Wörter beschreiben, sind die 50er-Jahre in Neapel. Lenù, ebenso wie ihre Freundin Lila, ist im August 1944 geboren, ein Jahr, nachdem die Neapolitaner zusammen mit den alliierten Streitkräften die Nazis aus der Stadt vertrieben hatten. Welche schockierende Szenarien an Abgründen menschlicher Existenz dieser Epochenbruch mit sich brachte, lässt sich am besten nachlesen in Curzio Malapartes 1949 erschienenem Meisterwerk "Die Haut".

Das harte Leben im Rione

Auf diesem Hintergrund muss man auch den ersten Band von Elena Ferrantes Tetralogie lesen. Lenù und Lila leben in einem ärmlichen Stadtviertel, einem Rione, das Ferrante-Kenner als das in der Nähe vom Hauptbahnhof und dem Gefängnis Poggioreale gelegene Rione Luzzati identifiziert haben wollen. Dort spielen sich die - in vielen Neapel-Filmen - sonst gerne ins Pittoreske verkitschten Nachbarschaftshändel ab, voll Geschrei, Beschimpfungen, Tätlichkeiten. Aber dort beginnt auch die Freundschaft zweier noch nicht sechsjähriger Mädchen, die ein Leben dauern soll.

"Ich sehne mich nicht nach unserer Kindheit zurück, sie war voller Gewalt. Es passierte alles Mögliche, zu Hause und draußen, Tag für Tag, doch ich kann mich nicht erinnern, jemals gedacht zu haben, dass unser Leben besonders schlimm sei. Das Leben war eben so, und damit basta, wir waren gezwungen, es anderen schwerzumachen, bevor sie es uns schwermachten. Gewiss, mir wären die freundlichen Umgangsformen, die unsere Lehrerin und der Pfarrer predigten, auch lieber gewesen, doch ich merkte, dass sie für den Rione, für unser Viertel, nicht geeignet waren, auch für die Mädchen nicht. Die Frauen bekämpften sich untereinander noch heftiger als die Männer, zogen sich an den Haaren, fügten sich gegenseitig Leid zu. Leid zufügen war eine Krankheit."

aus: Elena Ferrante, Meine geniale Freundin. Kindheit, frühe Jugend, Roman, 422 Seiten, Suhrkamp Verlag, 22,00 Euro

Eine Kinderfreundschaft, ein Rückzug

Am Anfang dieser Freundschaft steht ein symbolischer Akt: Lila wirft Lenùs geliebte Puppe durch das schadhafte Gitter eines Kellerfensters und Lenù tut nach kurzem Zögern dasselbe mit Lilas Puppe. Dieser dunkle Abgrund voll ekligem Ungeziefer, modrigen Gerüchen und dem klebrigen Staub von Jahrzehnten verschluckt die Puppen, die sich nie mehr auffinden werden. Und auch in der Rahmenhandlung, mit der das Buch beginnt, ist die Rede davon, dass Lila, nunmehr 66-jährig, aus ihrer Wohnung verschwunden sei: zusammen mit allen Kleidern und Habseligkeiten, und sogar aus Fotos sei ihr Gesicht herausgeschnitten worden.

Verschwinden, Auslöschung, Entmaterialisierung – man kann nach dem ersten Band von Ferrantes Tetralogie nur ahnen und ein wenig spekulieren, dass das noch weiter zu einem starken Motiv ihres Schreibens werden könnte. Erst einmal erzählt sie uns, von Karin Krieger in einen farbig-anschaulichen deutschen Prosaton übertragen, sehr konkret und in eindrucksvoll realistischer Detailfülle das Miteinander, oder besser oft Gegeneinander von acht Familien, insbesondere der von Lila, deren Vater und Bruder den Schusterbetrieb des Viertels betreiben, und von Lenù, der Tochter eines Pförtners bei der Stadtverwaltung.

Lila hatte sich schon mit drei Jahren das Lesen selber beigebracht. Lenù akzeptiert von Anfang an bewundernd die Überlegenheit der Freundin. Die ist in jeder Situation die Mutigere, Klügere, Radikalere. Dennoch sucht Lenù immer wieder die Konkurrenz, ist süchtig nach einem beifälligen Blitzen in den Augen der Freundin. Als Lilas Vater ihr den Besuch der Mittelschule verwehrt, besorgt sie sich in der Bücherei Latein- und Griechischbücher und stachelt so mit ihrem Wissen auch den Ehrgeiz von Lenù an, die es mit Bestnoten schließlich aufs Gymnasium schafft. Ein funktionierendes Team, so scheint es. Doch irgendwann zieht sich Lila zurück. Sie leiht keine Lehrbücher mehr aus, werkelt mürrisch im Schusterbetrieb des Vaters und heiratet schließlich, mit gerade 16 Jahren, den jungen Salumeria-Besitzer Stefano, im trügerischen Glauben, dass der Wohlstand seiner Familie nicht von schmutzigem Geld herrührt.

"Ferrante-Fever"

Screenshot "#FerranteFever" auf twitter | Bild: Twitter

Mit "Meine geniale Freundin" liegt nun der erste Teil einer Tetralogie auf Deutsch vor, die international erstaunliche Resonanz erfahren hat. Kritiker äußern sich begeistert, Leser sind hingerissen, auf Twitter versammelt der sprechende Hashtag #FerranteFever Kommentare zum Thema, und von einer geplanten Netflix-Serie ist auch schon die Rede.

Zum Ferrante-Phänomen gehört zweifellos auch die Anonymität der Autorin. Als 1992 ihr Debütroman erschien, bestand sie darauf, unter Pseudonym zu veröffentlichen. Ein Buch könne für sich selbst stehen, so ihre Auffassung, die öffentliche Person einer Autorin, mit der es sich verbinden lasse, sei überflüssig. Das ist wohl eine allzu nüchterne Annahme, gerade für ein Projekt wie die Neapel-Tetralogie, die nicht selten als autobiografisch fundiert gelesen und - obwohl literarisch so ganz anders - auch schon mit der großen Buchreihe des Norwegers Karl Ove Knausgård über sein Leben verglichen wird. Die Spekulationen darüber jedenfalls, wer hinter den Weltbestsellern aus Neapel stehen könnte, schießen ins Kraut. Und machen die Sache sicher noch einmal interessanter.

Zeitpanorama auf engem Raum

Lenù wird es immer schmerzlicher bewusst, dass sie und Lila  in verschiedenen Welten lebten. Mit einfühlsamer Analytik beschreibt Elena Ferrante das Auseinanderdriften der adoleszenten Lebenswege. Die Irrungen und Wirrungen der Jugend fügt sie zusammen zu einem großen soziografischen Sitten- und Zeitpanorama. Eine Zeit, in der eine 15-jährige Neapolitanerin zum ersten Mal ans Meer zum Baden kommt, wenig vorher zum ersten Mal ihr ärmliches Stadtviertel verlässt, um die berühmte Altstadt zu besuchen, ein Ausflug, der ihr vorkommt, als wäre sie "in einem fernen Land" gewesen. Dass die immer wieder aufbrechenden, hasserfüllten Spannungen zwischen den Familien des Viertels ihre Ursachen in der Zeit des Faschismus haben könnten, in Verstrickungen in Schwarzhandel und anderen Camorra-Aktivitäten, fasst die Autorin in sinnhafte Bilder wie etwa das der für die Kinder nur nebulös wahrnehmbaren "gefügigen Angst" der Eltern.

Aber auch Zeichen von Wandel, von Aufbruch sind erkennbar, wenn Lila und Stefano die Schraube der Gewalt, das Gesetz von Beleidigung und Rache durch Nichtachtung zu durchbrechen suchen. Lila wird sich, wie es auf diesen ersten 425 Seiten aussieht, innerhalb der Strukturen des Rione emanzipieren, Lenù verlässt ihr Milieu, wird von Neapel fortgehen und damit die ewigen Missstände des Mezzogiorno hinter sich lassen. Zehn Jahre umfasst dieser erste Band, endet demnach um das Jahr 1960, und erst mit dem vierten Buch wird Elena Ferrante Lenù und Lila in der Gegenwart ankommen lassen. Die Geschichte der genialen Freundin, diese international gefeierte "neapolitanische Suite", endet vorerst abrupt mit einem gekonnten Cliffhanger – der seine deutschen Leser mit einer Ahnung von kommenden Konflikten in spannungsvolle Erwartung entlässt.

Diwan

Für das Büchermagazin auf Bayern 2 hat Barbara von Becker "Meine geniale Freundin" von Elena Ferrante gelesen.
Diwan, Samstag, den 3. September 2016, 14:05 Uhr
(Wiederholung 21:05 Uhr)


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