Bayern 2 - Bayerisches Feuilleton


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Kindheiten in Bayern Hundsbuam und Herzibopperl

Von: Thomas Grasberger

Stand: 24.04.2021 | Archiv

Wer oder was ist eigentlich ein "Kind"? Zumindest die juristischen Definitionen scheinen heutzutage klar zu sein. Die UNO schreibt in ihrer Kinderrechtskonvention: "Kind ist, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat." Das deutsche Recht unterscheidet schon etwas genauer: Wer noch keine 14 ist, darf sich hierzulande "Kind" nennen. Was sich aber hinter dem Begriff "Kindheit" so alles verbirgt und verbarg, darüber sagen solche formalen Definitionen natürlich nichts aus. Denn Kinder sind und waren immer schon verschiedene Leute mit höchst unterschiedlichen Lebensumständen - je nach Zeitalter und sozialer Herkunft, in die sie hinein geworfen wurden, und je nach Anlagen und Charaktereigenschaften, mit denen das Schicksal sie ausgestattet hat.

Selbst- und fremdoptimierende Helikoptereltern

Das "Ein-Kind-Projekt" muss heutzutage auf Anhieb klappen, denn eine zweite Chance gibt es nicht

Da sind zum Beispiel die "Hundsbuam" (und natürlich auch "-madeln"). Weitgehend unkontrolliert und abenteuerlustig stromer(te)n sie durch die Straßen der Städte, über die Wiesen und durch die Wälder des Landes - auf dass sie hoffentlich wenigstens zum Abendessen wieder daheim waren. Ihre Kind-Kollegen hingegen, die "Herzibopperl", wurden und werden stets wohlbehütet und verhätschelt, gefördert und gefordert, allerdings auch kontrolliert, ja kaserniert auf den Inseln elterlicher Häuslichkeit. Letzteres - so kann man zumindest immer wieder lesen - sei im Zeitalter selbst- und fremdoptimierender Helikoptereltern das gängige Modell. Stichwort "Terminkindheit". Seit der "Entdeckung der Kindheit", die der französische Historiker Philippe Ariès mit dem Beginn der Neuzeit verknüpft, haben sich die Lebensbedingungen der kleinen Menschen immer wieder verändert.

Helikoptereltern

Helikopter-Eltern nennt man jene überfürsorglichen Menschen, die ständig über ihrem Nachwuchs kreisen, ihn behüten, belehren und überwachen. Eltern, die sich in alles einmischen, was die lieben Kleinen gerade tun.

"Das ist sicher auch kennzeichnend für unser 'Helikoptern', für diese Überbehütung, dass wir ein falsches Bild haben von Krisen, Niederlagen und von Fehlern. Und dass wir glauben, unseren Kindern etwas Gutes zu tun,  wenn wir von ihnen alle negativen Erfahrungen und alle Fehltritte fernhalten."

(Professor Bernhard Kalicki, Leiter der Abteilung Kinder und Kinderbetreuung im Deutschen Jugendinstitut München)

Auf Spielplätzen sieht man heute oft mehr Erwachsene als Kinder. Weil immer öfter beide Eltern dabei sind, beim Schaukeln oder beim Rutschen. Ob's dadurch sicherer wird für die Kleinen? Zumindest nicht, wenn Mama und Papa dauernd aufs Handy starren. Aber wer weiß, vielleicht haben sie ja auch eine jener Kontroll-Apps auf ihrem Smartphone, mit denen man neuerdings jeden Schritt des Nachwuchses verfolgen kann. Ach ja, das Kind im Zeitalter seiner technischen Überwachbarkeit ...

In unserer Wissensgesellschaft sind Kinder die Ressource, in die man investieren muss

Betreute Kindheit ist heute die Regel. Eine Entwicklung, die sich generell trotz aller regionalen und auch schichtspezifischen Unterschiede zeigt, sagt Kindheitsforscher Bernhard Kalicki.

Freilebende Lausbuben in den 1950er Jahren

"Kindheit heißt, dass wir nicht mehr wie früher die Straßenkindheit haben, wo Kinder andere Kinder getroffen haben und zwar automatisch. Heute wird Kindheit stark geprägt durch Bildung, das heißt wir haben hohe Leistungserwartungen an Kinder. Und wir alle haben gelernt - und der Rhetorik begegnen wir überall: Wir sind eine Wissensgesellschaft, und Kinder sind die Ressource. Wir müssen investieren in Kinder. Das heißt, die Gelassenheit bleibt auf der Strecke. Und es bleiben auf der Strecke die Freiräume, dass man Kinder einfach mal so sein lässt, ohne dass Erwachsene dauernd über ihnen stehen, sie beobachten oder die Zeit verplant wird. Das sind so einige Eckpunkte."

(Professor Bernhard Kalicki)

"Helikopter"-Kindheit annodazumal: Maria del Pilar von Wittelsbach

Maria del Pilar von Wittelsbach

"Ich durfte nicht allein auf die Straße, aber ich hab es nicht anders gewusst. Ich durfte nicht drei Schritte allein hinaus, aber ich habe das überhaupt nicht als schrecklich empfunden, weil ich nichts anderes gekannt habe. Man wusste von vornherein, dass man nicht allein zur Tür hinaus darf. Es war immerzu jemand um einen herum."

Das schreibt Maria del Pilar von Wittelsbach, Prinzessin von Bayern, in ihren Erinngerungen. Geboren wurde sie 1891 auf Schloss Nymphenburg, wo sie auch die meiste Zeit ihrer Kindheit verbrachte. Und dabei wär sie doch "so schrecklich gern mal mit der Pferde-Trambahn" allein in die Stadt hineingefahren. Aber, nichts da! Immer nur in Begleitung und mit dem Hofwagen!

Buchtipp:

Geschichte der Kindheit

  • Autor: Philippe Ariès
  • Herausgeber: Wolf Lepenies
  • Taschenbuch: 592 Seiten
  • Verlag: dtv Verlagsgesellschaft (1. Oktober 1998)
  • ISBN-10: 3423301384
  • ISBN-13: 978-342330138

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