Bayern 2 - Bayerisches Feuilleton


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Frühlingsqualen Psychogramm einer Jahreszeit

Der Frühling kennt keine Normalität und kein gesundes Maß. Er übertreibt, ist impulsiv und cholerisch. Er macht die Menschen nervös und zu Idioten. Penetrant schmeckt er nach mehr, malt bunte Luftschlösser ins Gehirn und verteilt ungedeckte Schecks. Und am nächsten Tag ist dann alles wieder vorbei: Die Lerche ist weg, es schneit ohne Unterlass und man kniet vor der dümmsten aller dummen Fragen: Wie konnte das passieren? - Bonjour tristesse! - Ein Frühlings-Psychogramm von Thomas Kernert.

Von: Thomas Kernert

Stand: 18.03.2017 | Archiv

"Endlich Frühling" | Bild: colourbox.com

"Der Mai ist zum Kotzen,
am Tag ist er zu heiß:
Als wollte er protzen,
bringt er uns in Schweiß.
Sinkt der Abend hernieder,
friert man in seinem dünnen Rock
und sehnt sich schon wieder
nach Heizung und Grog."

(Max Herrmann-Neiße)

Veronika, der Lenz ist da ...

So will es die europäische Frühlingsikonographie: Allenthalben sprießen die Veilchen, flattern die blauen Bänder und säuseln die linden Lüfte. Zephyr, der Westwind, turtelt mit Flora, der Liebreizenden, und heraus kommt eine neue Welt, mehr botanischer Garten als Realität. Der Lenz ist da und Botticellis blonde Grazien tanzen halbnackt Ringelreihen. In weiteren Hauptrollen treten auf: Nachtigallen, Kirschbäume, fröhliche Lieder, zärtliche Gefühle und selbstverständlich Venus, die Göttin der Liebe.

Frühling in Bayern - ein langes, schlammiges Ärgernis

Kind sucht Ostereier im Schnee

Und der Bayer, was macht er? Er sucht Ostereier im Schnee und klaut Maibäume im Nieselregen. Und während Italiener und Franzosen bereits im T-Shirt promenieren, trifft er sich mit der kalten Sophie zum Earl Grey oder erledigt seine Steuererklärung. Frühling in Bayern, das ist ein langes, schlammiges Ärgernis, gemacht allein, um den Voralpenlandbewohner bis aufs Blut zu schikanieren. Bis er dann irgendwann die Schnauze voll hat und so richtig schön in die Luft geht. Und siehe da, mit ihm zusammen explodiert die Natur, Blüten öffnen sich, Biergärten öffnen sich, Cabrio-Verdecke öffnen sich und an den Fluss- und Seenufern tanzen die ersten Grazien halbnackt Ringelreihen. Vergessen sind Kummer und Qual – bis zum nächsten Mal!

"Und dann wären da selbstverständlich auch noch die Winterstiefelfetischisten, auch 'Stinkstiefel' genannt. Ihnen wird schon beim Gedanken an weit geöffnete Fenster speiübel. Grelles Licht durchpflügt dann ihre schlechte Laune, hysterisch zwitschernde Vögel martern ihre Gehörgänge, aggressive Killerinsekten missachten ihre Privatsphäre. Winterstiefelfetischisten sind Angsthasen. Der Frühling mag zwar stürmisch und impulsiv sein, ein Monster ist er dennoch nicht!"

(Thomas Kernert)


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