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Funktioniert völlig unberührte Natur in Mitteleuropa? Ruf nach Wildnis

Biber, Luchs, Wolf oder Bär - die Wiederansiedlung fast ausgerotteter Arten reicht vielen Naturschützern längst nicht mehr. Der Ruf nach "echter Wildnis" wird immer lauter. Ganze Landschaften sollen sich selbst überlassen werden. Gleichzeitig aber nimmt der Erholungsdruck auf "die Natur" durch die verstädterte Gesellschaft zu. Aber wie realistisch ist überhaupt der Wunsch nach Wildnis?

Von: Doris Bimmer

Stand: 18.03.2022 | Archiv

"Theoretisch wusste ich um die ganze Arbeit und wusste auch, was es bedeutet - nein ich wusste es eben nicht. Ich wusste, dass, wenn man ein Milchtier hat, morgens und abends melken muss. Was es in der Praxis bedeutet, das wusste ich nicht."

Claudia Heuermann, Dokumentarfilmerin

Dokumentarfilmerin Claudia Heuermann hatte das Buch "Ruf der Wildnis" von Jack London gelesen, hat alles hinter sich gelassen und  das Experiment gewagt. Suchte die sogenannte Wildnis als neuen Lebensraum für sich und ihre Familie. Mit ihrem Mann und zwei Kindern packte sie die Koffer, ließ München hinter sich. Ihr neues Zuhause wird eine alte Farm in den Catskill Mountains im US-Bundesstaat New York. Nach sieben Jahren ist sie zurückgekehrt, mit ihren beiden Söhnen, ihre Ehe ist in die Brüche gegangen. Im Einklang mit der Natur zu leben, resümiert sie, sei eine Illusion. Eher sei es ein Tauziehen mit der Natur. Heuermann hat ein Buch über ihre Erlebnisse geschrieben, weil sie wollte, dass andere, die von der Wildnis träumen, erfahren, wie hart diese Art zu leben manchmal sein kann. Dass man eben nicht frei von allen Zwängen ist. Sondern sich die Zwänge nur ändern. Auf's Land ziehen will sie trotzdem wieder, irgendwann.

Die Wildnis ist eine Illusion von Städtern

Davon ist der Kulturgeograf Werner Bätzing überzeugt. Der emeritierte Professor, der an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg lehrte, teilt die Bevölkerung in Stadt- und Landmenschen ein. Dabei komme es nicht so sehr darauf an, wo man wohnt, maßgebend ist für ihn vielmehr das Verständnis und der Bezug zur Natur, das Arbeiten und Leben in und mit der Kulturlandschaft. Also der Landschaft, die durch Menschenhand, durch die Landwirtschaft verändert und nutzbar gemacht wurde.

"Der Mensch hat schon sehr früh angefangen, Natur zu verändern, um leben zu können. Denn viele Elemente der Naturlandschaft sind für den Menschen feindlich. Da kann er kaum oder gar nicht existieren. Deswegen ist es die Basis unser aller Natur, dass man die Natur verändert. Die Alpen zeigen, weil sie ein Hochgebirge sind, besonders deutlich, dass der Mensch nur dort leben kann, wenn er in die Natur eingreift und sie verändert."

Werner Bätzing, Kulturgeograf

Mittlerweile gibt es ja kein Fleckchen Erde mehr, auf dem der Mensch nicht Spuren hinterlassen hat - und sei es nur durch Mikroplastik. Die Sehnsucht nach unberührter Natur wächst. Abenteurer und Kolonisatoren, so Bätzing, hätten durch ihre Erzählungen und Berichte dazu beigetragen, in Europa eine diffuse Sehnsucht nach Wildnis zu wecken. Die einziehende Technik veränderte den Alltag damals schneller, als manchen lieb war. Viele lebten gerade in den Städten in elenden Verhältnissen. Das nährte die Sehnsucht nach etwas anderem, nach einem besseren Leben. Gleichzeitig haben sich die Menschen über die Jahre immer weiter von der Natur entfernt. Unsere heutige Welt sei ja bloß noch auf das Kognitive, auf das reine Wissen, auf Fakten ausgerichtet. Das greife zu kurz, weil es eben nur einen Teil des Menschen betreffe.

Auf der Alm gibt's scho a Sünd

Florian Kargs Alpweiden

Die Familie von Alphirte Florian Karg bewirtschaftet seit Jahrzehnten eine Alpe unterhalb des Rotkopfs bei Bad Hindelang. Sommer für Sommer bringen ihm Landwirte aus dem ganzen Allgäu ihre Jungrinder, damit sie dort oben die Weiden abgrasen und gleichzeitig pflegen. Er hat sie nicht gezählt bisher, aber nicht wenige Urlauber kämen immer wieder auf ihn zu und erklärten ihm, wie schön die Gegend und sein Leben doch sei, erzählt Karg. Er hört zu und macht sich dann so seine Gedanken.

"Da fragst Dich schon, was für Leute da kommen. Die sind unzufrieden, wenn sie aus dem Bus aussteigen und dann steigen sie unzufrieden wieder in den Bus ein. Ist die Frage, was sie suchen? Die suchen ein Stück weit die heile Welt. Wenn sie aber länger damit konfrontiert wurden, dann sehen sie, so heil ist sie doch nicht und zweitens kommen sie damit nicht klar: Die brauchen Strom, jederzeit Handyempfang. Und ja, wir hatten schon viele da, die sind wieder gegangen, weil sie damit nicht klargekommen sind."

Florian Karg

Rinder auf Florian Kargs Alpweiden

Dass die Menschen die grünen Bergwiesen als so bezaubernd empfinden, das hat viel mit der Bewirtschaftung der Alpen zu tun. Es ist eine seit Jahrhunderten gewachsene und gepflegte alpine Kulturlandschaft. Also garantiert keine Wildnis. Von Natur aus wäre alles bewaldet und würde verbuschen.

Wolf oder nicht Wolf?

Die scheinbar unberührte Natur ist aber nicht der einzige Faktor, den viele Menschen mit Wildnis verbinden. Für sie gehört auch die Rückkehr der sogenannten großen Beutegreifer dazu, also von Wolf, Bär und Luchs und, in der etwas kleineren Ausgabe, der Fischotter. Die Diskussion vor wenigen Wochen über den geforderten Abschuss eines Wolfs im Chiemgau hat wieder einmal gezeigt: Die Emotionen kochen bei diesem Thema schnell hoch, die verschiedenen Positionen sind oft unvereinbar. Für den Alpwirtschaftlichen Verein im Allgäu steht fest, dass extensiv bewirtschaftete Flächen eine hochwertige, kräuterreiche Futtergrundlage zur Produktion gesunder Lebensmittel bildeten. Es gebe keine natürlichere und artgerechtere Haltungsform für die Nutztiere als die Weidewirtschaft. Dies alles stehe auf dem Spiel, wenn der Wolf in den Alpenraum zurückkehrt

Rudolph Eberler mit seinen Schafen

Rudolph Eberler ist da ganz anderer Meinung, eine Koexistenz mit dem Wolf sei möglich. Er ist von Beruf Schäfer und lebt im mittelfränkischen Landkreis Roth. Er hält eine Herde von mindestens 700 Schafen und ein paar Dutzend Ziegen. Vor gut fünf Jahren hat er sich mehrere Herdenschutzhunde zugelegt, zusätzlich zu seinen Hütehunden.

Seine Herdenschutzhunde, spanische Mastiffs, fallen in Bayern unter die Kampfhundeverordnung. Die Gemeinde hat ihm deshalb die Hunde nur so lange erlaubt, wie er Schafe hält. Die Tiere müssen auch einen Wesenstest absolvieren. Der Hundenachwuchs wächst mit den Schafen auf. Sie werden in der Herde geboren, das heißt, Schafe und Ziegen kennen die Herdenschutzhunde von klein auf. Bis aber aus dem Nachwuchs ein vollwertiger Herdenschutzhund wird, vergehen gut drei Jahre. Zur Ausbildung gehört nicht nur das Wachen über die Herde, gegen Diebe oder einen Wolf. Die Hunde müssen vielmehr auch für das Leben in einer Tourismusregion gerüstet sein, sagt René Gomringer, bis vor kurzem Geschäftsführer des Landesverbandes Bayerischer Schafhalter.  

"Wir brauchen bayerische Hunde, die die Situation bei uns beherrschen können. Bei uns am Kanal, am Rhein-Main-Donau-Kanal, da sind Schäfer, da kommen 1.500 Radfahrer am Tag vorbei, wenn's sein muss. Wenn's ein guter Tag ist. Überall haben wir Tourismus, und wir haben auch eine ganz andere Landwirtschaft. Viel mehr Maschinen. Das muss der Hund alles kennen. Auch die Steckengeher muss er kennen. Das müssen die Hunde bei uns alles lernen. Sonst ist es schlecht."

René Gomringer

Rudolph Eberler mit seinen Hunden

Natürlich schlagen die Mastiffs an, wenn fremde Menschen oder andere Hunde der Herde zu nahekommen. Respektiert man die Warnung, geben sie bald Ruhe, sagt Schäfer Eberler. Erkennen sie aber eine Gefahr für die Schafe, sollte man sich nicht mit ihnen anlegen. Das wissen auch Wölfe. Dennoch sind Herdenschutzhunde in Bayern immer noch selten.

Beim Thema Wolf, so scheint es, scheiden sich die Geister. Entweder ist man für seine Rückkehr oder dagegen. Werner Bätzing hat festgestellt, dass es im Grunde genommen in der Diskussion gar nicht um den Wolf gehe. Es sei, so der Kulturgeograf, eine Stellvertreterdiskussion. Es gehe darum, dass die Städter das Land dominieren wollten. Und die Leute auf dem Land würden sich von den Städtern bedroht fühlen. Daraus entstünden dann diese eigentlich unversöhnlichen Diskussionen.

Diesen Eindruck bestätigt auch Max Rossberg, der das von der EU-geförderte Projekt "Lifestockprotect" leitet, das sich mit den praktischen Herausforderungen im Herdenschutz befasst. Er meint, dass es hier vorrangig gar nicht um die Rückkehr von Beutegreifern in unsere Lebenswelt gehe und ist überzeugt, dass hier ein Mensch-Mensch-Konflikt auf dem Rücken der Tiere ausgetragen wird.

"Menschen, die auf dem Land leben, leiden darunter, dass die junge Generation in die Städte abwandert. Die, die zurückbleiben, sind damit konfrontiert, dass der Supermarkt und die Bank dichtmachen. Das heißt, aus diesem funktionellen System Dorf werden irgendwann nur noch ein paar Häuser. Dann kommen die Städter, die eigentlich aus diesen Orten geflüchtet sind, zurück zu den Hiergebliebenen und sagen: Na, bei euch ist ja eh nix mehr los. Da habt ihr ja kein Problem, wenn wir da hinten einen Nationalpark machen. Und daneben machen wir eine Wildnis. Und mit dem Wolf, da kommst Du ja klar."

Max Rossberg

Und diese Bevormundung will sich natürlich keiner gefallen lassen. Gegenseitiges Unverständnis macht sich breit, die Städter sind empört, weil sie das Verhalten der Landbevölkerung nicht nachvollziehen können; die wiederum fühlt sich nicht ernstgenommen und missachtet. Diese Konfrontation bräuchte es aber gar nicht. Die oft aufgestellte Forderung, Bauern müssten lernen, mit dem Wolf zu leben, sei illusorisch. So wie ein Bauer nie in einer Wildnis Ackerbau betreiben würde. Weil das sich schlichtweg widerspreche. Vielmehr müsse der Bauer lernen, seine Herden vor dem Wolf zu schützen. Das sei der erste Schritt. Um an diesen Punkt zu kommen, geht EU-Experte Rossberg programmatisch vor. Er vergleicht die Situation mit dem Schutz der Wohnung vor Einbrechern. Wobei er nicht die Diebe in den Mittelpunkt rückt, sondern die Möglichkeiten, wie man das Haus sicher machen kann. Und erfahrungsgemäß findet sich darüber sehr schnell eine Gesprächsgrundlage.

Gemeinsam mit Landwirten und Tierhaltern aus Bayern, Österreich und Südtirol suchen Rossberg und sein Projekt-Team nach Lösungen. Den Kopf in den Sand zu stecken und zu sagen, es werde auch ohne Herdenschutz gehen, die Wölfe würden schon wieder verschwinden, sei eine Illusion, warnt er. Hunde und Zäune seien ein Teil der Strategie. Zwingend notwendig, so Rossberg, sei aber auch, über Hirten nachzudenken. Diesen Beruf müsse man völlig neu definieren, denn der Hirte betreibe nichts Anderes als Biodiversitätsmanagement. Denn bis 2030 werden mindestens 30 Prozent der Flächen in der EU gesetzlich strengstens geschützt.

Rossberg kritisiert, dass seit Jahren die kaum noch genutzte heimische Schafwolle im Müll entsorgt werde. Den Schafbauern wäre gewaltig geholfen, verwendete man in der Gewebe- und in der Textilindustrie wieder Schafwolle. Wolle eigne sich außerdem perfekt zum Isolieren von Häusern.

Lassen wir zum Schluss nocheinmal den Kulturgeografen Werner Bätzing zu Wort kommen. Die heftigen Konflikte mit den großen Beutegreifern, im Speziellen mit dem Wolf, müsste es nicht geben. Dennoch müsse man einzelne Tiere töten dürfen, um Rudel auf Distanz zu halten. Gerade in den Ostalpen zeige sich, dass die Gattung nicht mehr bedroht sei. Denn der Wolf nutzt den Lebensraum, den der Mensch ihm überlässt. Weil sich der Mensch aus vielen Flächen der Alpen, bereits zurückgezogen hat, gebe es, so Bätzing, viele Möglichkeiten für Wölfe, sich dort anzusiedeln. Nicht die Tiere der kultivierten Almen wären dann deren Beute, sondern Wildtiere. Davon könnten genügend Wolfspopulationen dauerhaft leben. In den östlichen Alpen, von der Steiermark über Oberösterreich bis hinein nach Kärnten gibt es riesige Waldgebiete. Aus bäuerlicher oder touristischer Sicht für den Menschen unattraktiv. Nicht aber für den Wolf.


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