Bayern 2

     

radioThema Grenzverluste

 Flüchtlinge aus dem Kosovo an der albanischen Grenze bei Morina | Bild: picture-alliance/dpa

Donnerstag, 10.07.2014
20:03 bis 21:00 Uhr

  • Als Podcast verfügbar

BAYERN 2

Heimat in Zeiten permanenter Migration
Von Christian Schüle

Der Flüchtling verlässt sein Dorf, seine Stadt, seine Heimat. Er wird zu bloßem, nacktem, unbehaustem Leben. Er geht über Tage und Wochen hinweg barfuß und wasserlos durch die Wüsten zum Sammelplatz der Hafen- oder Küstenstädte. Die Städte sind überfüllt mit Abertausenden von seinesgleichen, verstopft mit bloßem Leben, das nach Geborgenheit strebt. Er ist auf dem Weg ins Paradies: nach Europa. Einem Ort, der ihm Schutz bietet. Doch die Europäer tun alles, damit er nicht hereinkommt. Deswegen setzt sich der Flüchtling in nicht seetüchtige Boote. Deswegen stirbt er vor Lampedusa, Malta, Lesbos. Der alte Begriff der „Heimat“ tritt heute in einem völlig neuen Gewand auf und vereint die drängendsten Probleme unserer Tage: Herkunft, Identität und Zugehörigkeit. Die Auflösung von Grenzen bedeutet die Auflösung des vertrauten Raums und schafft nebenbei ganz neue Grenzen: intellektuelle, ökonomische, soziale, politische. Mobilität ist zum Imperativ der globalen Ökonomisierung geworden, Sicherheiten sind passé, Identitäten erschüttert. In der Epoche der Grenzverluste stehen sich zwei große Bewegungen gleichzeitiger Heimatbedrohung gegenüber: die permanente Transition durch Migration und der Exzess durch permanente Mobilität. Die Flucht ist die radikalste Form der permanenten Transition, der Identitätsverlust die wahnsinnigste Form des Exzesses. Der Flüchtling und der radikale Individualist sind die Hauptfiguren unserer Epoche. Sie sind die Kontrahenten im Kampf um Heimat und Identität. Beide haben ihre Selbstbestimmung verloren. Die Welt ist ihr eigenes Exil geworden, der Flüchtling als transnationaler Nomade das traurige Extrem. Heimatverlust, Umzug, Wanderung und Flucht grundieren die neue Weltordnung der Fragilität.